Sehr geehrte Damen und Herren,
im Namen des Bundesverfassungsgerichts heiße ich Sie hier in Karlsruhe herzlich willkommen. Es freut uns, dass Sie zum 20. Geburtstag der Arbeitsgemeinschaft Familienrecht im Deutschen Anwaltverein gerade Karlsruhe als Ort Ihrer Herbsttagung gewählt haben.
Ihr Jubiläum gibt mir Gelegenheit, Ihnen sowohl zur Arbeit der Arbeitsgemeinschaft als auch zu Ihrer täglichen anwaltlichen Tätigkeit zu gratulieren und Ihnen für beides zu danken sowie einen Blick auf einige Herausforderungen zu werfen, vor denen Sie auf ähnliche Weise stehen wie das Bundesverfassungsgericht.
1. Zunächst unser Dank. Sie tragen maßgeblich dazu bei, dass der Geist der Verfassung im Familienrecht kein unsichtbares Schlossgespenst bleibt, sondern ein höchst lebendiger Geist ist. Sie füllen die in Gesetzesrecht und Rechtsprechung geronnenen Maximen des Grundgesetzes tagtäglich mit Leben, insbesondere die der Artikel 6 und 3 Absatz 2 des Grundgesetzes.
Das Familienrecht gehört zweifellos zu den am stärksten verfassungsrechtlich geprägten Materien, über die die deutsche Rechtsordnung verfügt. Vielen zentralen Sätzen des Familienrechts werden Nichteingeweihte nicht ansehen können, ob sie eine Formulierung des Bundesverfassungsgerichts sind, die unmittelbar die Anforderungen der Grundrechte ausbuchstabiert, ob es sich um Paragrafen des BGB oder sonstigen einfachen Familienrechts handelt oder aber um von den Familiengerichten etablierte Regeln des Familienrechts, die diese in verfassungsgeleiteter Auslegung des einfachen Rechts gefunden haben.
Das einfache Recht ist im Familienrecht häufiger als in den meisten anderen Rechtsgebieten Konkretisierung und Ausdruck des Verfassungsrechts. Ganz besonders springt dies bei den Fragen elterlicher Sorge und des elterlichen Umgangs mit dem Kind ins Auge, die maßgeblich durch das Elterngrundrecht, das Persönlichkeitsrecht des Kindes und das staatliche Wächteramt geprägt sind. Aber auch das gesamte Eherecht ist stark verfassungsrechtlich durchwirkt – vom Ehegrundrecht und vom Grundrecht auf Gleichberechtigung von Mann und Frau.
Anwaltliche Tätigkeit im Familienrecht ist praktiziertes Verfassungsrecht.
Mit Ihrer Tätigkeit sorgen Sie dafür, dass der von der Verfassung versprochene Schutz von Eltern und Kindern in den Familien ankommt. Sie tragen dazu bei, dass der verfassungsrechtliche Schutz und die verfassungsrechtliche Ausgestaltung der Familie an den echten Bedingungen familiärer Wirklichkeit reale Gestalt gewinnen; Schutz und Ausgestaltung, die auf Verfassungsebene nur sehr abstrakt formuliert werden können und auch vom Gesetzgeber oft nur grob vorstrukturiert sind. Reale Gestalt verleihen Sie dem Familienverfassungsrecht im Zusammen- und Wechselspiel mit den Familiengerichten, die von Ihnen dabei vermutlich mal eher als Unterstützer, mal eher als Bremser empfunden werden, mit denen Sie aber letztlich doch gemeinsam die Verfassungswirklichkeit im Familienrecht prägen.
Das Bundesverfassungsgericht schaltet sich in all dies nur im Ausnahmefall ein. Gerade im Familienrecht, in dem rechtliche Entscheidungen erheblich auf Tatsacheneinschätzungen und -prognosen beruhen, ist davon auszugehen, dass das Bundesverfassungsgericht die Dinge regelmäßig nicht besser beurteilen könnte als die durch mehrere Instanzen beteiligten Familienrechtsexperten vor und hinter der Familienrichterbank. Zwar kommt es gelegentlich vor, dass wir denken, ein Fall hätte gerechter entschieden werden können als es das letztinstanzlich zuständige Familiengericht getan hat. Wie Sie wissen, beanstandet das Bundesverfassungsgericht Entscheidungen der Zivilgerichte jedoch grundsätzlich nur dann, wenn die Bedeutung der Grundrechte grundlegend verkannt wurde. Alles andere würde die rationale Aufgabenteilung zwischen Fachgerichtsbarkeit und Grundrechts- oder auch Menschenrechtsgerichtsbarkeit auf den Kopf stellen. Weder das Bundesverfassungsgericht noch etwa der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sind für die Entscheidung familienrechtlicher Streitigkeiten besser ausgestattet als die Familiengerichtsbarkeit. Vermutlich ist es für Sie gelegentlich schwierig, Ihren Mandantinnen und Mandanten zu vermitteln, dass die deutsche Rechtsordnung einen vergleichsweise stark ausgebauten Rechtsschutz durch mehrere Fachinstanzen bietet, dass aber das Bundesverfassungsgericht keine weitere Fachinstanz ist. Hier keine falschen Erwartungen in Verfassungsgerichtsbarkeit zu wecken, ist im Interesse aller.
Manche Ungereimtheit oder Ungerechtigkeit im Familienrecht kann schließlich nur der Gesetzgeber beheben. Auch insoweit leisten Familienrechtsanwältinnen und -anwälte – nicht zuletzt durch die Arbeitsgemeinschaft Familienrecht im Deutschen Anwaltverein – unverzichtbare Beiträge zu einer Familienpolitik, die den Geist des Grundgesetzes aktualisiert und in einem zeitgemäßen Familienrecht wirksam werden lässt.
Sie sind die Motoren des Familienverfassungsrechts und Sie sind Garanten dafür, dass Menschen in ihren offenbar schwierigen Projekten ...