Interview mit Prof. Dr. Gabriele Britz, Richterin des Bundesverfassungsgerichts (1. Senat)
Prof. Dr. Gabriele Britz
Schnitzler/FF: Sie sind seit Februar 2011 Mitglied des für wesentliche Teile des Familienrechts zuständigen Senats beim Bundesverfassungsgericht. Die Hälfte der Amtszeit ist vielleicht ein ganz guter Zeitpunkt, Sie zu befragen. Welche Entscheidungen aus der Zeit von 2011 bis 2017 sind Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?
Britz: In besonderer Erinnerung bleiben die Senatsentscheidungen, weil wir über diese lange beraten und weil überhaupt nur solche Verfahren durch den Senat entschieden werden, die grundlegende und damit regelmäßig auch kontroverse Fragen aufwerfen. Oft interessiert dies auch die Öffentlichkeit sehr – gerade im Familienrecht. Im Jahr 2013 ist unser Urteil zur Sukzessivadoption durch eingetragene Lebenspartnerinnen und Lebenspartner ergangen. Eine denkwürdige mündliche Verhandlung hatte zu diesem damals noch extrem umstrittenen Thema ein ungewöhnlich einheitliches Meinungsbild der Expertinnen und Experten ergeben, die nahezu einstimmig bekundeten, die Sukzessivadoption müsse ermöglicht werden oder berge jedenfalls keine spezifischen Gefahren für die betroffenen Kinder. Der Senat hat das am Ende am Maßstab der Grundrechte der Betroffenen einstimmig ebenso beurteilt. Wir haben nach intensiver Diskussion auch einmütig festgestellt, dass Familien mit gleichgeschlechtlichen Elternpaaren und gleichgeschlechtliche Eltern den Schutz des Familien- und des Elterngrundrechts genießen (Art. 6 Abs. 1 und 2 GG). Vor allem diese Feststellungen weisen über die Frage der Sukzessivadoption hinaus. Heute erscheint das vielen selbstverständlich. Vor vier Jahren war es das aber keineswegs. Unser Urteil hat in den Medien, in der Politik und in der Wissenschaft Zustimmung gefunden, aber auch starke Kritik erfahren. Einige Monate lang wurde das Bundesverfassungsgericht immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert, es maße sich Entscheidungsgewalt an, die allein dem Gesetzgeber zustehe. Das ist allerdings ein Vorwurf, den das Gericht seit über 60 Jahren immer dann hört, wenn es in politisch streitigen Fragen entscheiden muss und die Entscheidung bei einem Teil der Bevölkerung und der Politik auf starke Ablehnung stößt.
Ähnlich brisant war die kürzlich ergangene Entscheidung zur personenstandsrechtlichen Anerkennung einer geschlechtlichen Identität, die weder weiblich noch männlich ist, was unter dem Schlagwort "Drittes Geschlecht" in die Öffentlichkeit gelangt ist und in den Medien ein Maß an Aufmerksamkeit gefunden hat, das dann doch überraschend war. Im Grunde war das Ergebnis durch frühere Entscheidungen des Senats zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht, insbesondere zum Schutz der geschlechtlichen Identität, vorgezeichnet und der Gesetzgeber selbst hatte das Personenstandsrecht im Jahr 2013 bereits in diese Richtung weiterentwickelt – wenn auch nicht weit genug. Überraschend war auch, wie große Teile der Bevölkerung es offenbar begrüßen, dass das Bundesverfassungsgericht eine stärkere Anerkennung der betroffenen Minderheit eingefordert hat.
Ich erinnere mich auch intensiv an den Senatsbeschluss zum Regressanspruch der Scheinväter und an das Urteil zum isolierten Abstammungsklärungsanspruch. Das sind alles emotional stark beladene Themen. In diesen Verfahren habe ich die plurale Zusammensetzung des Senats besonders zu schätzen gelernt.
Insgesamt ist meine Tätigkeit bisher aber doch noch viel stärker durch die weit über tausend kindschaftsrechtlichen Verfahren bestimmt gewesen. Es sind nicht einzelne Verfahren, sondern die Gesamtheit der Verfahren, die meinen Eindruck hier prägen. Diese Verfahren werden in der breiteren Öffentlichkeit nicht so stark wahrgenommen. Das liegt auch daran, dass wir sie in der Kammer ohne mündliche Verhandlung und nicht im Se nat entscheiden. Wir haben uns hier einem besonderen Beschleunigungsgebot unterworfen; die Verfahren werden in kürzester Zeit entschieden, um das regelmäßig langwierige Leiden der betroffenen Kinder an den Rechtsstreitigkeiten ihrer Eltern nicht noch weiter zu verlängern. Diese Erledigungsgeschwindigkeit wäre in Senatsentscheidungen nicht zu halten. Die Kindschaftsverfahren sind aber auch in aller Regel von vornherein keine "Senatsverfahren", weil sie keine grundsätzlichen Fragen aufwerfen und deshalb in die Kammerzuständigkeit fallen (§ 93b BVerfGG). Sie bestimmen den Arbeitsalltag im Dezernat und in der jeweils betroffenen Kammer, weil es so viele Verfahren sind, die zudem von großer grundrechtlicher Tragweite sind und oft auch menschlich nahegehen.
Schnitzler/FF: 2014 hatte man ein wenig das Gefühl, dass der BGH sich aus dem Kindschaftsrecht (insbesondere Sorgerechtsentzug und Fremdunterbringung) zurückgezogen hat. Offenbar waren beim BGH keine Entscheidungen im Rahmen der Rechtsbeschwerde eingegangen. Dies hängt natürlich auch mit der Konstruktion zusammen, dass das vorgeschaltete Oberlandesgericht immer die Rechtsbeschwerde zulassen muss. Es ist kein Gehe...