Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. "Die wichtigen Entdeckungen macht man durch den Gebrauch von Verkleinerungsgläsern", hat Georg Christoph Lichtenberg schon vor 200 Jahren festgestellt. Übertragen auf unser Thema bedeutet dies: Erst wenn man die Familie aus einem angemessenen Abstand betrachtet, lassen sich ihre eng vernetzten Strukturen und wechselseitigen Abhängigkeiten erkennen. Dieses erreicht man, wenn man die gewohnten Gleise des Familienrechts mit seinen auf Zwei-Personen-Beziehungen reduzierten Individualansprüchen verlässt und die Großeltern ins Visier nimmt. Oft trifft man dabei auf für den familiären Zusammenhalt überaus wichtige Personen. Diese können sehr unterschiedliche Funktionen im Leben ihrer Angehörigen wahrnehmen. Genauso verschieden sind die Erwartungshaltungen, denen sie sich ausgesetzt sehen und die sie gegenüber ihren Kindern und Enkeln haben. Die Zuwendungen an die eigenen Kinder und Enkel – seien es persönliche Unterstützung oder materielle Transfers – stärken ebenso den Zusammenhalt des Familienverbandes wie die im Alter notwendigen Hilfen zur Bewältigung des Alltags. Alle innerfamiliären Leistungen orientieren sich an den aktuellen Bedürfnissen und den Möglichkeiten der Gebenden. Hier lässt sich familiäre Solidarität im besten Sinne des Wortes beobachten. Dies alles ist aber nicht rechtlich verpflichtend, sondern beruht auf freiwilliger Basis. Ein Äquivalenzverhältnis oder gar eine Rechtspflicht folgen hieraus nicht. Ungeachtet dessen bleiben sie ein Vertrauen stiftendes Invest in die Sicherung der eigenen Zukunft und sind für den Geber nicht vollkommen zweckfrei. Für die anderen Familienmitglieder, speziell die eigenen Kinder, ergeben sich ebenfalls nur moralisch begründete Erwartungen. In einer ungewissen Zukunft können sich solche Erwartungen erfüllen oder enttäuscht werden. Hier wächst zusammen, was zusammengehört. Umgekehrt bedeutet dies aber auch: Es trennt sich, was nicht zusammenpasst. Der verwandtschaftliche Status wird bedeutungslos, wenn die familiären Bindungen nicht gelebt werden.
Die Annahme, die allgemein beobachtete "familiäre Solidarität" zwischen den Generationen bilde ein alles überlagerndes Verhaltensmuster, das sich generalisierend als Rechtspflicht durchsetzen lasse, beruht daher auf einem Trugschluss. Es genügt nicht, einzelne Details zu betrachten, ohne deren Verzahnung innerhalb des Systems zu erfassen. Und so bleiben die Voraussetzungen außer Betracht, die diesen Austausch tragen. Unverzichtbare Merkmale sind die gewachsenen persönlichen Bindungen, die Freiwilligkeit jeglicher Unterstützung und die zu erwartende Wechselbezüglichkeit. Dieses alles vollzieht sich außerhalb eines rechtlich verpflichtenden Rahmens auf einer moralischen Ebene. Moral und Sittlichkeit sind indes eine ungeeignete Basis, um hierauf Rechtspflichten zu gründen. Der intakte Familienverband ist über die Kernfamilie hinaus eine sich selbst regulierende Gemeinschaft. Als solche bedürfen ihre Mitglieder keiner wechselseitig begründeten rechtlichen Ansprüche. Der besondere Stellenwert, den die Freiwilligkeit für die zwischenmenschlichen und auch innerfamiliären Beziehungen hat, wird dabei regelmäßig unterschätzt. Es ist auch nicht zu befürchten, dass der familiäre Zusammenhalt darunter leidet, wenn das Gesetz kein Leitbild mit einer wechselseitigen Unterstützungspflicht der Generationen vorgibt. Bedürfnisse, die sich vor Zehntausenden von Generationen als überlebensnotwendig entwickelt haben, verschwinden nicht einfach deshalb, weil ihr ursprünglicher Zweck an Bedeutung verloren hat. Vielmehr passen sie sich in ihrer Ausprägung laufend an die sich ändernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen an.
Die auf die Großeltern erweiterte Betrachtung hat gezeigt, wie wichtig es ist, den über die Eltern-Kind-Familie hinausreichenden Familienverband im Blick zu behalten, diesen von zusätzlichen Pflichten zu entlasten und ihn in seinen tatsächlich gelebten familiären Beziehungen zu stützen. Daher erscheint es als bedenklich, wenn in unserem auf die Kernfamilie zugeschnittenen normativen Gerüst die Vielfalt der tatsächlich gelebten Familienformen unsichtbar bleibt – insbesondere zum Nachteil der nicht durch Verwandtschaft oder Ehe statusrechtlich gesicherten Realbeziehung. Ein Recht, das sich zunehmend von der Lebenswirklichkeit abkoppelt, wird sich nicht auf Dauer behaupten können. Die anfangs bereits beschriebene Notwendigkeit für eine Neuordnung des Abstammungsrechts kann nicht bei der Regelung der Eltern-Kind-Beziehung stehen bleiben. Sie bietet zugleich Gelegenheit, die Rechte und Pflichten zwischen den Verwandten neu zu ordnen und an die veränderten Lebensverhältnisse anzupassen.
Am Ende steht eine weitere Geschichte: Es ist die Geschichte von dem Großvater, der gar nicht erst versuchte, seine Enkelin durch Schmeicheln oder Schimpfen zu bewegen, die ihr nicht schmeckende Suppe zu essen. Stattdessen stellte er die Frage: "Was hättest Du anders gemacht?" In dieser Frage...