Leitsatz

Das BAG hat eine wichtige Grundsatzentscheidung zu einer juristisch und politisch kontrovers diskutierten Frage getroffen: Gewerkschaften dürfen bei Betriebsänderungen wie z. B. Rationalisierungsmaßnahmen zu Streiks aufrufen. Voraussetzung ist, dass ein Tarifvertrag erkämpft werden soll, in dem z. B. Abfindungen oder Qualifizierungsmaßnahmen für die Arbeitnehmer geregelt sind.

 

Sachverhalt

Im Urteilsfall wollte der tarifgebundene Arbeitgeber durch Produktionsverlagerung in seinem Betrieb 562 Arbeitsplätze abbauen und informierte den Betriebsrat ordnungsgemäß über die geplante Betriebsänderung (§ 111 BetrVG). Die IG Metall als zuständige Gewerkschaft kündigte den geltenden Manteltarifvertrag und forderte den Arbeitgeberverband auf, einen auf das Unternehmen des Arbeitgebers bezogenen Verbandstarifvertrag wegen der Betriebsänderung abzuschließen. Die Gewerkschaft forderte hierbei verlängerte Kündigungsfristen, Qualifizierungsmaßnahmen und Abfindungen. Der Arbeitgeberverband lehnte dies ab und die IG Metall rief zum Streikauf. Der Arbeitgeberverband war der Ansicht, die Streiks seien im Hinblick auf die Regelungen in §§ 111ff. BetrVG unzulässig und verlangte Unterlassung. Die IG Metall verfolge mit ihrer Strategie das unzulässige Ziel, die Umsetzung unternehmerischer Entscheidungen durch überzogene Forderungen zu verhindern oder zu verzögern.

Das BAG hat die Streikaufrufe der Gewerkschaft für zulässig erklärt und den Antrag des Arbeitgeberverbands zurückgewiesen. Gewerkschaften dürfen zu Streiks für einen Tarifvertrag aufrufen, wenn damit legitime tarifliche Regelungsziele verfolgt werden. Hier sollten durch den unternehmensbezogenen "Tarifsozialplan" wirtschaftliche Nachteile aus einer Betriebsänderung ausgeglichen bzw. gemildert werden. Für die Aufstellung betriebsbezogener Sozialpläne sind nach §§ 111f. BetrVGArbeitgeber und Betriebsrat zuständig. Aus diesem Grund war der Arbeitgeberverband auch der Ansicht, die Streikaufrufe verfolgten kein legitimes tarifliches Regelungsziel. Die Frage, ob die Regelungen der §§ 111ff. BetrVG über Interessenausgleich und Sozialplan dazu führen, dass Gewerkschaften keine Tarifverträge mit gleichem Inhalt erstreiken dürfen, ist juristisch und politisch stark umstritten. Der Betriebsrat hat nach § 74 Abs. 2 BetrVG ausdrücklich kein Recht zu Arbeitskampfmaßnahmen. Streiks "gegen" Betriebsänderungen müssen deshalb jedenfalls durch die Gewerkschaft geführt werden und den Abschluss eines Tarifvertrags als Zielsetzung haben. Vielfach wird jedoch aus den §§ 111ff. BetrVG geschlossen, dass Interessenausgleich und Sozialplan der Regelungsbefugnis des Betriebsrats unterfallen und deshalb nicht erstreikbar sind.

Das BAG hat dies anders beurteilt: Das Betriebsverfassungsgesetz schränke die Regelungsbefugnis von Tarifvertragsparteien nicht ein. Typische Sozialplaninhalte, wie Ansprüche auf Abfindungen oder Qualifizierungsmaßnahmen, seien zugleich tariflich regelbare Angelegenheiten. Ist der Arbeitgeber(verband) zum Abschluss eines entsprechenden Tarifvertrags nicht bereit, dürfe hierfür gestreikt werden. Die Gewerkschaften könnten mit dem Streik auch sehr weitgehende Tarifforderungen verfolgen. Der Umfang einer Streikforderung, die auf ein tariflich regelbares Ziel gerichtet ist, unterliege wegen der durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleisteten Koalitionsbetätigungsfreiheit einer Gewerkschaft und im Interesse der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie keiner gerichtlichen Kontrolle.

 

Link zur Entscheidung

BAG, Urteil v. 24.4.2007, 1 AZR 252/06.

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