Entscheidungsstichwort (Thema)
Außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses wegen einer strafrechtlichen Verurteilung zu einer zu verbüßenden Freiheitsstrafe. Voraussetzungen der Fiktion des Zugangs des Zustimmungsbescheides des Integrationsamts bei bewusster Zugangsvereitelung. Voraussetzungen des Anspruchs auf Weiterbeschäftigung
Leitsatz (redaktionell)
1. Eine Verurteilung eines Arbeitnehmers zu einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung ist nicht geeignet, die außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses gemäß § 626 Abs. 1 BGB zu rechtfertigen. Es verbleibt vielmehr bei der ordentlichen Kündbarkeit des Arbeitsverhältnisses.
2. Die ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Arbeitnehmers ist unwirksam gemäß § 88 Abs. 3 SGB IX a.F., wenn die Kündigung nicht innerhalb eines Monats ab Zustellung des Zustimmungsbescheids des Integrationsamtes erklärt wird.
3. Das gilt auch dann, wenn der Arbeitnehmer bewusst den Zugang des Zustimmungsbescheides vereitelt hat, es dem Arbeitgeber jedoch möglich gewesen wäre, den Zugang der Kündigung anders als durch Übermittlung mit der Post herbeizuführen, etwa durch Übermittlung an den empfangsbevollmächtigten Prozessbevollmächtigten des Arbeitnehmers.
4. Auch bei festgestellter Unwirksamkeit der Kündigung besteht kein Weiterbeschäftigungsanspruch des Arbeitnehmers, wenn er seinen Antrag im gerichtlichen Verfahren nicht näher begründet hat.
Normenkette
ZPO § 130 Nr. 1; BGB §§ 242, 626 Abs. 1
Verfahrensgang
ArbG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 13.06.2013; Aktenzeichen 21 Ca 663/12) |
Nachgehend
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen das Urteil des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 13. Juni 2013 – 21 Ca 663/12 – teilweise abgeändert und klarstellend wie folgt neu gefasst:
Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht durch die außerordentliche, hilfsweise ordentliche Kündigung der Beklagten vom 10. Januar 2012 aufgelöst worden ist.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Von den Kosten des Rechtsstreits hat die Beklagte ¾, der Kläger ¼ zu tragen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Kündigung von Anfang des Jahres 2012.
Die Beklagte ist ein IT-Unternehmen, sie beschäftigte zum Zeitpunkt der streitigen Kündigung in ihrem Betrieb Rhein/Main mehr als 10 Arbeitnehmer, dort war ein Betriebsrat gebildet.
Der am XX.XX.1966 geborene, ledige, mit einem GdB von 50 schwerbehinderte Kläger ist ausgebildeter Diplom-Informatiker und seit 1. Dezember 2000 Arbeitnehmer der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerin. Maßgeblich ist der zwischen dem Kläger und der Rechtsvorgängerin, der A, geschlossene Arbeitsvertrag (vgl. beigezogene Akte des Vorverfahrens der Parteien mit dem erstinstanzlichen Az. 21 Ca 4130/11, zuletzt: Hess. LAG 16 Sa 1318/18 , dort Bl. 12-21 d.A.). Der Kläger hat nur bis ca. 2006 noch tatsächlich für die Beklagte gearbeitet, seither nicht mehr. Er verdiente damals ca. 4.580,00 € brutto monatlich.
Die Beklagte hat zumindest seit Ende 2005 mehrfach versucht, das mit dem Kläger bestehende Arbeitsverhältnis zu beenden. Vor der streitgegenständlichen Kündigung mit Datum vom 10. Januar 2012 erklärte sie vom 16. Juni 2011, 11. Juli 2011 und 28. Juli 2011 datierende außerordentliche bzw. ordentliche Kündigungen. Über die Wirksamkeit dieser Kündigungen haben die Parteien in dem bereits angeführten Vorverfahren mit dem erstinstanzlichen Az. 21 Ca 4130/11 (zuletzt: Hess. LAG 16 Sa 1318/18) gestritten. Die Akten dieses Vorverfahrens sind im Berufungsverfahren beigezogen und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden (vgl. Sitzungsniederschrift vom 4. März 2020, Bl. 889 d.A.). Die Kündigung vom 16. Juni 2011 ist durch Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 26. März 2015 (Az. 2 AZR 517/14) für unwirksam erklärt worden (vgl. Bl. 696-702 der beigezogenen Akte).
Zur Wirksamkeit der vom 11. Juli 2011 und 28. Juli 2011 datierenden Kündigungen ist erst am 1. Juli 2019 durch das Hess. LAG ein (mittlerweile) rechtskräftiges Urteil verkündet worden. Danach konnte die Beklagte nicht beweisen, dass dem Kläger diese Kündigungen während seiner Untersuchungshaft in der JVA B zugegangen sind, sie haben mithin das Arbeitsverhältnis nicht beendet. Der Auflösungsantrag der Beklagten ist abgewiesen worden (Bl. 1002-1009 der beigezogenen Akte).
Der Kläger befand sich seit 28. April 2011 in Untersuchungshaft. Am 8. November 2011 wurde er durch das Landgericht Darmstadt zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren und 9 Monaten wegen Fälschung beweiserheblicher Daten, Steuerhinterziehung, Urkundenfälschung und anderen Delikten verurteilt (Az. ZZZZZZ1). Das Urteil wurde nach einer teilweise erfolgreichen Revision des Klägers am 28. Juli 2012 rechtskräftig, ohne dass die Gesamtstrafe geändert wurde (vgl. Bundesgerichtshof, Beschluss vom 27. Juli 2012, Az. 1 StR 238/1...