Entscheidungsstichwort (Thema)
Verhaltensbedingte Kündigung eines Arbeitnehmers ohne ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrats
Leitsatz (redaktionell)
1. Eine erneute Anhörung des Betriebsrats ist jedoch erforderlich, wenn eine Änderung des Kündigungssachverhalts eingetreten ist, weil der Arbeitgeber im Rahmen des Verfahrens vor dem Integrationsamt nach der Ermittlung neuer tatsächlicher Aspekte die geplante Tatkündigung fallen lässt und nur noch die zuvor hilfsweise beabsichtigte Verdachtskündigung aussprechen will. 2. Stimmt das Integrationsamt ausdrücklich einer einheitlichen Verdachtskündigung aufgrund von zwei jeweils in sich abgeschlossenen Vorfällen zu und hat der Arbeitgeber die ursprünglich beabsichtigte Tatkündigung im Rahmen dieses Verfahrens ausdrücklich fallen gelassen, ist eine auf nur einen dieser Vorfälle gestützte und im Prozess ausschließlich als Tatkündigung begründete Kündigung mangels Zustimmung des Integrationsamts nach den §§ 168 SGB IX, 134 BGB unwirksam.
Normenkette
BetrVG § 102 Abs. 1 S. 3
Verfahrensgang
ArbG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 03.11.2020; Aktenzeichen 23 Ca 652/20) |
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 3. November 2020 - 23 Ca 652/20 - wird als unzulässig verworfen, soweit sie sich gegen die Verurteilung der Beklagten zur Entfernung der Abmahnungen vom 17.7.2018, vom 20.7.2018 und vom 9.8.2018 aus der Personalakte des Klägers wendet.
Im Übrigen wird die Berufung der Beklagten zurückgewiesen.
Die Kosten der Berufung hat die Beklagte zu tragen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten in der zweiten Instanz noch über zwei ordentliche arbeitgeberseitige Kündigungen, drei Abmahnungen, sowie - erstmals in der Berufungsinstanz - um die gerichtliche Auflösung des Arbeitsverhältnisses.
Der zum Kündigungszeitpunkt 36 Jahre alte, verheiratete und gegenüber zwei Kindern unterhaltsverpflichtete Kläger ist bei der Beklagten seit dem 1. November 2006 in deren Zügen als erster Bordsteward in der Bordgastronomie mit Inkassoverantwortung zuletzt mit einem durchschnittlichen Bruttomonatsgehalt von 3.000,00 € tätig. Zu seinen Aufgaben gehört unter anderem die Zubereitung der Speisen und Getränke, die Durchführung des gastronomischen Services und die Sicherung der Prozesse beim Bordgastronomieservice wie z. B. die Abrechnung der Bestellungen. Er ist mit einem Grad der Behinderung von 50 schwerbehindert.
Bei der Beklagten, die weit mehr als zehn Arbeitnehmer ausschließlich der zu ihrer Berufsausbildung Beschäftigten beschäftigt, ist ein Betriebsrat gebildet und es besteht eine Schwerbehindertenvertretung.
Die Beklagte sprach dem Kläger gegenüber unter dem 17. Juli 2018, dem 20. Juli 2018 und dem 9. August 2018 Abmahnungen aus. Inhalt der Abmahnungen waren behauptete Verstöße des Klägers gegen die Bonierungs- und Inkassovorschriften am 27. Mai 2018, am 26. Juni 2018 und am 8. Juli 2018. Wegen der Einzelheiten der Abmahnungen wird auf die Anl. B7, B10 und B13 des Anlagenbandes Bezug genommen.
Am 29. September 2018 war der Kläger während seiner Schicht als erster Steward Bordgastronomie auf dem ICE XXXX von A nach B tätig. Die Arbeitnehmerin der Beklagten C arbeitete auf der gleichen Zugfahrt als Zugbegleiterin.
Am 28. Oktober 2018 war der Kläger während seiner Schicht als erster Steward Bordgastronomie auf dem IC XXXX von D nach B Flughafen Fernbahnhof tätig.
Am 15. November 2018 wurde der Kläger zu einer persönlichen Anhörung eingeladen, die er krankheitsbedingt absagte. Mit Schreiben vom 16. November 2018 wurde ihm mitgeteilt, dass man gegen ihn im Hinblick auf Verkaufsvorgänge am 29. September 2018 Vorwürfe erhebe und davon ausgehe, dass er mindestens Einnahmen iHv. 17,80 € zulasten der Beklagten unterschlagen habe. Geprüft werde daher eine mögliche Verdachtskündigung, zu der er sich, nachdem er eine persönliche Anhörung am 15. November 2018 krankheitsbedingt abgelehnt habe, schriftlich äußern könne. Wegen der Einzelheiten des Schreibens wird auf Bl. 149, 150 der Akte Bezug genommen.
Ebenfalls mit Schreiben vom 16. November 2018 teilte die Beklagte dem Kläger mit, sie gehe davon aus, dass er bei seiner Schicht am 28. Oktober 2018 17,60 € bewusst nicht boniert habe, um sich die Einnahmen widerrechtlich anzueignen. Auch insoweit habe er, nachdem er die persönliche Anhörung am 15. November 2018 krankheitsbedingt abgelehnt habe, die Möglichkeit, sich schriftlich zu äußern. Wegen der Einzelheiten des Schreibens wird auf Bl. 151, 152 der Akten Bezug genommen.
Schließlich stellte die Beklagte den Kläger mit Schreiben vom 16. November 2018 (Bl. 93 der Akte) bis auf weiteres widerruflich von der Erbringung seiner Arbeitsleistung frei. Mit Schreiben vom 23. November 2018 bestellte sich für den Kläger der Rechtsschutzsekretär E und bat um Überlassung der Kassenanmeldezettel und des elektronischen Zugberichts für den 29. September 2018 und für den 28. Oktober 2018.
Im elektronischen Zugbericht des IC XXXX ist für den 28. Oktober 2...