Entscheidungsstichwort (Thema)
Anforderungen an die nachträgliche Zulassung der Kündigungsschutzklage
Leitsatz (amtlich)
1. Wenn dem klagenden Arbeitnehmer gleichzeitig, in separaten Briefumschlägen, eine a.o. fristlose Kündigung und eine a.o. Kündigung mit sozialer Auslauffrist zugehen, von denen der Kläger nur das Kündigungsschreiben mit der a.o.K. mit sozialer Auslauffrist seinem Rechtsanwalt zur Einreichung einer Kündigungsschutzklage übergibt, kann er seinen Antrag auf nachträgliche Zulassung der Kündigungsschutzklage (§ 5 Abs. 1 KSchG) gegen die a.o. fristlose Kündigung nicht mit Erfolg darauf stützen, er habe seinem Anwalt nur eines der Schreiben übergeben, weil er - wenn auch fehlerhaft - davon ausgegangen sei, beide Schreiben seien inhaltlich gleich. Es hätte vom Kläger im Rahmen der ihm zuzumutenden Sorgfalt erwartet werden können, dass er dem Rechtsanwalt zur vollständigen Information - ohne eigene rechtliche Wertungen zu treffen - beide ihm zugegangenen Schreiben übergibt.
2. Der Kläger konnte jedoch gemäß § 6 KSchG analog die Kündigungsschutzklage gegen die a.o. fristlose Kündigung ohne den Eintritt der Wirkung des § 7 KSchG auch noch Ablauf der Klagefrist einreichen, weil er innerhalb der Klagefrist - mit einer weiteren Kündigungsschutzklage - die Wirksamkeit der a.o. Kündigung mit sozialer Auslauffrist angegriffen hat und das Verfahren noch in erster Instanz andauert. Da das Arbeitsgericht weder in jenem noch in diesem Kündigungsschutzverfahren einen Hinweis auf § 6 KSchG gegeben hat, eine Zurückverweisung an die erste Instanz in diesem Verfahren dem Kläger nicht die Möglichkeit der Nachholung des Klageantrags in dem anderen verfahren eröffnen würde, und weil die fristlose Kündigung offensichtlich unwirksam ist, erscheint es in analoger Anwendung des § 6 KSchG aus Gründen der Prozessökonomie als vertretbar, dem Kläger die Klagemöglichkeit in der verlängerten Klagefrist im vorliegenden Verfahren zu eröffnen.
Normenkette
KSchG § 5 Abs. 1, §§ 6-7
Verfahrensgang
ArbG Marburg (Entscheidung vom 14.04.2011; Aktenzeichen 1 Ca 39/11) |
Tenor
Die Berufung gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Marburg vom 14. April 2011 - 1 Ca 39/11 - wird kostenpflichtig zurückgewiesen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer von der Beklagten ausgesprochenen außerordentlichen Kündigung, insbesondere um die nachträgliche Zulassung der Kündigungsschutzklage.
Der am A geborene Kläger ist auf der Grundlage des Arbeitsvertrages vom 2.01.1989 (Bl. 5-6 d.A.) seit dem 1.01.1989 bei der Beklagten bzw. ihrer Rechtsvorgängerin als Krankenpfleger beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis findet der TVöD Anwendung. Der Kläger ist seit dem 29.03.2007 ununterbrochen arbeitsunfähig erkrankt.
Am 9.12.2010 fand der Kläger in seinem Hausbriefkasten zwei separate Briefsendungen der Beklagten vor. Jeder der beiden Briefumschläge enthielt jeweils ein auf den 5.07.2010 datiertes und im Betreff mit "außerordentliche Kündigung aus wichtigem Grund" bezeichnetes Schreiben. Die ansonsten inhaltlich und gestalterisch gleichen Schreiben unterschieden sich lediglich im ersten Satz dadurch, dass einmal ausgeführt war, dass "aus wichtigem Grund mit sofortiger Wirkung" und einmal, dass "aus wichtigem Grund unter Einhaltung einer sozialen Auslauffrist von sechs Monaten zum 30.06.2011" gekündigt werde.
Der Kläger ging davon aus, beide Schreiben seien inhaltlich gleich seien bzw. sich lediglich dadurch unterschieden, dass das eine den Beendigungszeitpunkt konkretisiere. Da er nicht erkannte, dass es sich um zwei verschiedene Kündigungen handelte, übergab er lediglich eines der Schreiben, nämlich das mit der Kündigung "mit sozialer Auslauffrist zum, 30.06.2010", seinem Prozessbevollmächtigten mit dem Auftrag, Kündigungsschutzklage zu erheben. Dieser reichte innerhalb von drei Wochen nach Zugang der Kündigung Kündigungsschutzklage beim Arbeitsgericht Marburg (Az. 1 Ca 355/10) ein. Im dortigen Gütetermin am 24.01.2011erklärte die Beklagte, dass sie davon ausgehe, dass das Arbeitsverhältnis bereits aufgrund der ebenfalls ausgesprochenen fristlosen Kündigung, die nicht mit der Klage angegriffen worden sei, geendet habe. Das Arbeitsgericht Marburg setzte nach dem dortigen Gütetermin den Rechtsstreit aus.
Am 31.01.2011 hat der Kläger die vorliegende, nunmehr ausdrücklich gegen die außerordentliche Kündigung mit sofortiger Wirkung gerichtete Kündigungsschutzklage beim Arbeitsgericht eingereicht und gleichzeitig die nachträgliche Zulassung der Klage beantragt.
Beiden Kündigungen liegt derselbe Sachverhalt, die seit dem 27.03.2007 durchgehend bestehende Arbeitsunfähigkeit des Klägers, zugrunde. Der Kläger teilte in Telefonaten mit dem Personalleiter der Beklagten am 7.06.2010 und am 29.06.2010 mit, dass die Arbeitsunfähigkeit auf nicht absehbare Zeit fortbestehe. Die Teilnahme an einem betrieblichen Eingliederungsmanagement nach § 84 SGB IX lehnte er ab. Die betriebsärztliche Untersuchung vom 8.09.2010 bestätigte die Bedenken des Bet...