Entscheidungsstichwort (Thema)
Fristlose Kündigung des Arbeitsverhältnisses wegen Androhung eines Amoklaufs während eines BEM-Gesprächs bei Annahme eines Augenblicksversagens im Rahmen eines über 20 Jahre andauernden Arbeitsverhältnisses
Leitsatz (amtlich)
Die behauptete Drohung mit einem Amoklauf während eines BEM-Gesprächs rechtfertigt nicht den Ausspruch einer außerordentlichen fristlosen Kündigung, wenn - wie hier - aufgrund der besonders "geschützten" Situation eines BEM-Gesprächs nach § 84 Abs. 2 SGB IX unter Berücksichtigung von dessen Verlauf, dem Bestand des Arbeitsverhältnisses von über zwanzig Jahren und dem Gesundhheitszustand des Arbeitnehmers sowie der Annahme eines "Augenblicksversagens" die Interessen des Arbeitnehmers am Fortbestand des Arbeitesverhältnisses überwiegen.
Normenkette
BGB § 626 Abs. 1; SGB IX § 84 Abs. 2
Verfahrensgang
ArbG Gießen (Entscheidung vom 18.07.2014; Aktenzeichen 10 Ca 289/13) |
Nachgehend
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Gießen vom 18. Juli 2014 - Aktenzeichen 10 Ca 289/13 - abgeändert.
Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die außerordentliche Kündigung des beklagten Landes vom 11. September 2013 nicht aufgelöst worden ist.
Das beklagte Land wird verurteilt, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens zu unveränderten Arbeitsbedingungen als vollbeschäftigten Angestellten in der Autobahnmeisterei A gemäß der Entgeltgruppe 5, Stufe 6, TV-H weiter zu beschäftigen.
Die Kosten des Rechtsstreits hat das beklagte Land zu tragen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten im Berufungsrechtszug weiterhin über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung mit sofortiger Wirkung und, hilfsweise für den Fall des Obsiegens, über die Verpflichtung des beklagten Landes zur Weiterbeschäftigung des Klägers bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens.
Der jetzt 42-jährige (geboren am xx. xx. 1973) Kläger, der unverheiratet und ohne Unterhaltspflichten ist, wurde bei dem beklagten Land nach seiner Ausbildung zum Straßenwärter ab dem 1. Juli 1992 aufgrund schriftlichen Arbeitsvertrages vom 26. Juni 1992 (Bl. 27 und 28 d. A.) zunächst befristet und anschließend unbefristet als Straßenwärter beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis findet kraft einzelvertraglicher Vereinbarung seit dem 1. Januar 2010 der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst des Landes Hessen (TV-H) Anwendung. Der Kläger wurde zuletzt beim beklagten Land beschäftigt im Geschäftsbereich B mit rund 3.700 Beschäftigten und dort im Bezirksdezernat C mit rund 450 Beschäftigten und zwar in der Autobahnmeisterei D. Der Kläger ist aufgrund Bescheid des Versorgungsamts Gießen vom 28. Juni 2013 (Bl. 31 d. A.) nach Änderung des Bescheids vom 11. Juni 2003 anerkannt als behinderter Mensch mit einem Grad von 40. Darin heißt es, dass die Auswirkungen folgender Funktionsbeeinträchtigungen berücksichtigt wurden: seelische Störungen, Schlaf-Apnoe-Syndrom und Funktionsstörungen der Wirbelsäule mit Ausstrahlungen.
Nach Schwierigkeiten am Arbeitsplatz und längeren krankheitsbedingten Fehlzeiten wurde der Kläger ab dem 26. Mai 2008 aufgrund Schreiben des beklagten Landes vom 10. Dezember 2008 (Bl. 160 d. A.) "für die Dauer der Fortbildungsmaßnahme zum Bauaufseher" bis zum 15. Mai 2009 von der Autobahnmeisterei D in den Innendienst mit Dienstort E versetzt. Die Innendiensttätigkeit des Klägers als Bauaufseher mit Dienstort E wurde über den 15. Mai 2009 hinaus befristet bis letztlich zum 31. Dezember 2011 fortgesetzt, und zwar aufgrund Schreiben des beklagten Landes vom 14. Juni 2010 (Bl. 324 d. A.) befristet bis zum 28. Februar 2011 sowie vom 29. Juli 2011 (Bl. 325 d. A.) befristet bis zum 31. Dezember 2011.
Mit Schreiben des beklagten Landes vom 28. Dezember 2011 (Bl. 30 d. A.) wurde der Kläger mit Wirkung vom 1. Januar 2012 von der Autobahnmeisterei D zur Autobahnmeisterei A umgesetzt und ihm A als Einsatzort zugewiesen. Vom 2. bis zum 13. Januar 2012 befand sich der Kläger im Erholungsurlaub. Am Montag, den 16. Januar 2012, und am Dienstag, den 17. Januar 2012, erschien der Kläger am Einsatzort A, erhielt eine Sicherheitseinweisung und arbeitete an diesen beiden Tagen auf dem Gehöft.
Ab dem 18. Januar 2012 erkrankte der Kläger arbeitsunfähig. Vom 12. März 2013 bis zum 16. April 2013 befand sich der Kläger in einer stationären psychosomatischen Behandlung in der Hklinik in I. Ausweislich des ärztlichen Kurzentlassungsberichts vom 16. April 2013 (Bl. 162 und 163 d. A.) erfolgte die Entlassung nach den orthopädischen Befundergebnissen arbeitsunfähig für die zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Straßenwärter. Am 6. Mai 2013 wurde der Kläger bei der K-GmbH arbeitsmedizinisch zur Beurteilung seiner betrieblichen Einsatzfähigkeit untersucht. Ausweislich der hierüber erstellten ärztlichen Bescheinigung vom gleichen Tage (Bl. 161 d. A.) wurde nach Wertung der vorgelegten fachär...