Entscheidungsstichwort (Thema)

Gerichtliche Rechtmäßigkeitskontrolle von Sozialplänen. Mittelbare Ungleichbehandlung der Frauen durch Kinderfreibetrag als Lohnsteuerabzugsmerkmal im Sozialplan. "Anpassung nach oben" bei unwirksamer Sozialplanklausel

 

Leitsatz (amtlich)

Eine Regelung in einem Sozialplan, die für einen pauschalen Zuschlag auf die Abfindung für unterhaltsberechtigte Kinder an die "Eintragung des Kindes auf der Lohnsteuerkarte" anknüpft, d.h. an an einen Kinderfreibetrag als Lohnsteuerabzugsmerkmal, benachteiligt mittelbar Frauen. Dies beruht darauf, dass bei der Lohnsteuerklasse V Kinderfreibeträge als Lohnsteuerabzugsmerkmal nicht vorgesehen sind und noch deutlich mehr Frauen als Männer die Lohnsteuerklasse V wählen.

Die alleinige Anknüpfung in dem Sozialplan an den Kinderfreibetrag war nicht durch das begrenzte Volumen des Sozialplans oder Praktikabilitätserwägungen gerechtfertigt (insoweit gegen BAG 12.03.1997 - 10 AZR 648/96).

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Sozialpläne unterliegen, wie andere Betriebsvereinbarungen, der gerichtlichen Rechtmäßigkeitskontrolle. Sie sind daraufhin zu überprüfen, ob sie mit höherrangigem Recht, insbesondere dem betriebsverfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz nach § 75 Abs. 1 BetrVG, vereinbar sind.

2. Der Verstoß einer Sozialplanbestimmung gegen § 75 Abs. 1 BetrVG bewirkt, dass dem benachteiligten Arbeitnehmer für die Vergangenheit ein Anspruch auf die vorenthaltene Leistung zuzuerkennen ist, und zwar durch eine sogenannte „Anpassung nach oben“. Den Angehörigen der mittelbar benachteiligten Gruppe sind dieselben Vorteile zu gewähren wie den nicht benachteiligten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Das gilt selbst dann, wenn die Beseitigung der Diskriminierung zu erheblichen finanziellen Belastungen führt.

 

Normenkette

BetrVG § 75 Abs. 1; AGG § 3 Abs. 2; EStG §§ 32, 38b Abs. 2, § 39 Abs. 1, 4 Nr. 2, § 39e Abs. 2; AGG § 1

 

Verfahrensgang

ArbG Darmstadt (Entscheidung vom 21.11.2019; Aktenzeichen 8 Ca 329/19)

 

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Darmstadt vom 21. November 2019 - 8 Ca 329/19 - abgeändert:

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 10.000,00 EUR (in Worten: Zehntausend und 0/100 Euro) brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus seit dem 01. Juni 2019 zu zahlen.

Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten um die Erhöhung einer Sozialplanabfindung. Die Klägerin macht geltend, sie werde als Frau mittelbar diskriminiert.

Die Beklagte ist ein Unternehmen der Automobilindustrie mit Sitz in A.

Die 1983 geborene, verheiratete Klägerin hat zwei Kinder, die am xx.xx.2014 und xx.xx.2017 geboren sind. Die Klägerin arbeitete seit 01. Juni 2015 für die Beklagte. Sie war im Betrieb A tätig, verdiente zuletzt in einer Teilzeittätigkeit 4.259,46 € brutto monatlich und hatte die Lohnsteuerklasse V gewählt.

Das Arbeitsverhältnis der Parteien endete durch Aufhebungsvertrag vom 24./25. April 2019 mit Ablauf des 31. Mai 2019 im Rahmen des Programms B. Zur Wiedergabe des Inhalts des Aufhebungsvertrags wird auf die Anlage A1 zum Schriftsatz der Beklagten vom 14. Oktober 2020 verwiesen (Bl. 123-125 d.A.).

Bereits am 21. März 2018 schloss die Beklagte mit ihrem Gesamtbetriebsrat für alle Betriebe in Deutschland den Sozialplan B (folgend: SP) und eine „Betriebsvereinbarung zum Freiwilligenprogramm B. Die Verhandlungen über den SP erfolgten im Rahmen einer seit 14. Dezember 2017 entsprechend der „Schuldrechtlichen Vereinbarung zum Programm B“ dauerhaft eingerichteten Einigungsstelle.

Wegen des Inhalts des SP wird Bezug genommen auf die Anlage zur Klageschrift (Bl. 16-19 d.A.). Auszugsweise wiederzugeben sind diese Regelungen des SP:

„(…)

I. Geltungsbereich

1. Dieser Sozialplan gilt, zugleich auch als vorsorglicher Sozialplan, für sämtliche Arbeitnehmer in den Betrieben von C in Deutschland, die am 01.12.2017 in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis zu C stehen.

(…)

II. Abfindung

1. Arbeitnehmer, die aufgrund einer betriebsbedingten (Änderungs-)Kündigung bzw. einvernehmlichen Aufhebung auf Veranlassung von C zur Vermeidung einer betriebsbedingten (Änderungs-)Kündigung ausscheiden, erhalten für den Verlust des sozialen Besitzstandes und zur Milderung der wirtschaftlichen Nachteile eine Abfindung. Die jeweilige Abfindung berechnet sich nach folgender Formel:

Alter x Betriebszugehörigkeit x Bruttomonatsgehalt 32

(…)

4. Die Abfindung aus der vorstehenden Ziffer 1 erhöht sich bei den Arbeitnehmern

(…)

d) um EUR 5.000 pro Kind, das am Stichtag (Abschluss dieses Sozialplans) auf der Lohnsteuerkarte eingetragen ist; dieser Betrag wird auch gezahlt, wenn das Kind nur zu 0,5 auf der Lohnsteuerkarte eingetragen ist.

(…)“

Bis zum 31. Dezember 2020 gilt für den Standort A ein Tarifvertrag, welcher betriebsbedingte Kündigungen ausschließt.

Die Klägerin erhielt von der Beklagten anlässlich ihres Ausscheidens zum 31. Mai 2019 eine Abfindung in Höhe von 24.081,50 € (vgl....

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