Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Unionsbürger. Fortwirkung des Aufenthaltsrechts als Arbeitnehmer bei unfreiwilliger Arbeitslosigkeit bzw Arbeitslosengeldbezug. europarechtskonforme Auslegung
Leitsatz (amtlich)
Bei europarechtskonformer Auslegung von § 2 Abs 3 S 2 FreizügG/EU (juris: FreizügG/EU 2004) spricht vieles dafür, dass das Aufenthaltsrecht des Arbeitnehmers für den Zeitraum des Bezugs von Arbeitslosengeld nach dem SGB III fortbesteht und der Arbeitnehmer in dieser Zeit nicht dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 S 2 SGB II unterfällt.
Tenor
1. Der Beschluss des Sozialgerichts Kassel vom 22. Juli 2021 wird geändert und der Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller für die Zeit ab 1. Juli 2021 bis zum 31. Oktober 2021 vorläufig laufende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
2. Der Antragsgegner hat 2/3 der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers zu tragen.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten, ob ein Leistungsanspruch des Antragstellers gegen den Antragsgegner auf (ergänzende) Leistungen nach dem SGB II besteht.
Der 1974 geborene Antragsteller ist bulgarischer Staatsangehöriger. Er wohnt in einer Zweizimmerwohnung von 40 Quadratmetern zu einer Grundmiete von 350,00 Euro, Nebenkosten von 75,00 Euro und Heizkosten von 75,00 Euro monatlich (Bl. 15, 30 VA).
In dem Versicherungsverlauf des Antragstellers der Deutschen Rentenversicherung Hessen ist eine Erwerbstätigkeit mit Pflichtbeitragszeiten für die Zeit vom 7. Juli 2017 bis 22. Januar 2018 und vom 5. April 2018 bis 31. August 2018 bescheinigt (Bl. 227 GA).
Er ging vom 28. März 2019 bis 15. Februar 2020 einer weiteren sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit nach. Im Dezember 2019 erlitt der Antragsteller nach seinen Angaben einen Herzinfarkt und es bestand vom 9. Dezember 2019 bis 1. Mai 2020 Arbeitsunfähigkeit, ohne dass Krankengeld bezogen wurde (Bl. 224 GA).
Am 9. November 2020 nahm der Antragsteller eine erneute Erwerbstätigkeit auf. Diese wurde zum 12. März 2021 beendet (Bl. 7, 11 VA). Aus der Arbeitgeberbescheinigung ergeben sich ein Bruttoarbeitsentgelt von 805,33 Euro für November 2020, 1.139,71 Euro für Dezember 2020, 1.056,74 Euro für Januar 2021, 1.140,39 Euro für Februar 2021 und 909,15 Euro für den Zeitraum 1. Februar bis 12. Februar 2021 (Bl. 61 GA).
Auf Bl. 33 der Verwaltungsakte befindet sich ein Aufhebungsvertrag, aus dem hervorgeht, dass das Arbeitsverhältnis zum 12. März 2021 beendet werde. Handschriftlich wird als Grund angegeben: „Arbeit zu schwer“.
Der Antragsteller beantragte am 19. März 2021 Leistungen nach dem SGB II.
Mit Schreiben vom 1. April 2021 wurde der Antragsteller vom Antragsgegner aufgefordert, u.a. die Zahlung der Kosten der Unterkunft nachzuweisen. Woraufhin der Antragsteller mitteilte, er könne nur Quittungen vorlegen, da dies der Vermieter so wolle (Bl. 53 VA). In einem weiteren Schreiben ergänzte er, dass der Vermieter die Miete bar mit Quittung wolle (Bl. 61 VA).
Mit Bescheid vom 10. Mai 2021 lehnte der Antragsgegner die Leistungsgewährung ab. Zur Begründung wird ausgeführt, der Antragsteller sei vom Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen, weil er nur ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitssuche habe (Bl. 66 VA). Der Antragsteller legte vertreten durch seine Prozessbevollmächtigte am 20. Mai 2021 Widerspruch ein (Bl. 70 VA).
Die beigeladene Bundesagentur für Arbeit bewilligte mit Bescheid vom 10. Mai 2021 Arbeitslosengeld nach dem SGB III ab 3. Juli 2021 in Höhe von 20,87 Euro täglich. Für den Zeitraum vom 18. März 2021 bis 2. Juli 2021 wurden aufgrund einer Sperrzeit zunächst keine Leistungen bewilligt (Bl. 73 ff VA).
Auf Bl. 77 VA liegt eine Quittung über eine Mietzahlung in Höhe von 500 Euro für Mai 2021 vor.
Am 9. Juni 2021 erließ die Beigeladene einen Änderungsbescheid. Für die Zeit vom 18. März bis 19. März 2021 wurde eine Sperrzeit für verspätete Arbeitssuchendmeldung verhängt. Für den Zeitraum vom 29. April 2021 bis 19. Mai 2021 wurde noch nicht über den Leistungsanspruch entschieden. Ab 20. Mai 2021 bis 9. September 20201 erfolgte eine Bewilligung in Höhe von 20,87 Euro täglich (Bl. 106 ff VA).
Der ehemalige Arbeitgeber gab an, dass der Antragsteller vom 10. bis 12. März 2021 unentschuldigt gefehlt habe und das Arbeitsverhältnis durch Aufhebungsvertrag beendet worden sei (Bl. 119 VA).
Die Beigeladene führte auf Anfrage aus, dass die Beendigung der Tätigkeit auf ärztlichen Rat erfolgt (Bl. 126 VA).
Am 9. Juni 2021 hat der Antragsteller einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz beim Sozialgericht Kassel gestellt.
In der eidesstattlichen Versicherung hat er ausgeführt, dass er 2019 und 2020 zweimal am Herzen operiert worden sei. Die letzte Arbeit habe er aufgeben müssen, weil diese zu schwer gewes...