Entscheidungsstichwort (Thema)
Asylbewerberleistungen bei Abhängigkeit der Ausreisepflicht von einer Freiwilligkeitserklärung und damit einhergehendem längeren Aufenthalt
Orientierungssatz
1. Kommt es zur Durchsetzung der Ausreisepflicht nur auf die Vorlage einer sog. Freiwilligkeitserklärung an, kann die Ablehnung höherer Leistungen nach § 3 AsylbLG nicht auf eine diesbezügliche Mitwirkungsverweigerung des Asylbewerbers gestützt werden.
2. Es ist fraglich, ob § 1a Nr 2 AsylbLG nach verfassungskonformer Auslegung dann zu einer Absenkung der Grundleistungen gem. § 3 AsylbLG führen kann, wenn der Aufenthalt des Asylbewerbers bereits vier Jahre andauert.
3. Es ist unverhältnismäßig und nicht mit Art 1 Abs 1 GG in Verbindung mit Art 20 Abs 1 GG vereinbar, den Asylbewerbern ohne zeitliche Begrenzung über Jahre hinweg eingeschränkte Leistungen nach § 1a Nr 1 AsylbLG zu gewähren, zumal wenn es diese nicht in der Hand haben, durch eigenes Verhalten die Gewährung ungekürzter Leistungen herbeizuführen.
4. Der konkrete Missbrauchstatbestand des § 1a Nr 2 AsylbLG begegnet hinsichtlich seiner tatbestandlichen Voraussetzungen keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, jedoch beanspruchen die verfassungsrechtlichen Vorgaben bei der Bestimmung dessen, was nach den Umständen im Einzelfall unabweisbar geboten ist, verstärkte Beachtung.
Tenor
Der Beschluss des Sozialgerichts Kassel vom 9. Juli 2013 wird aufgehoben und der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller für die Zeit vom 14. Juni 2013 bis zur Rechtskraft einer Entscheidung in der Hauptsache uneingeschränkte Grundleistungen nach § 3 Asylbewerberleistungsgesetz nach den geltenden Bestimmungen zu gewähren.
Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
Die Beschwerde des Antragstellers, mit der schriftlich und sinngemäß beantragt wird,
den Beschluss des Sozialgerichts Kassel vom 9. Juli 2013 aufzuheben und den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller für die Zeit vom 14. Juni 2013 bis zur Rechtskraft einer Entscheidung in der Hauptsache uneingeschränkte Grundleistungen nach § 3 Asylbewerberleistungsgesetz nach den geltenden Bestimmungen zu gewähren,
ist gem. § 172 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig. Sie ist insbesondere nicht gem. § 173 Abs. 3 Nr. 1 SGG ausgeschlossen. Maßgebend ist, ob im Hauptsacheverfahren die Voraussetzungen des § 144 Abs. 1 SGG für eine zulassungsfreie Berufung vorliegen. Der danach maßgebliche Beschwerdewert von 750,00 € ist hier erreicht. Der nominale Regelungsgehalt des Bescheids vom 7. Mai 2013 mit dem ab 1. Juni 2013 neben Unterkunftskosten Leistungen nur noch in Höhe von 217,--€, d.h. ohne den Geldbetrag von 137,--€ zur Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums bewilligt wurden, ist zwar zeitlich auf den Monat Juni 2013 beschränkt, die Bewilligung für die Folgemonate erfolgt jedoch (zeitlich unbegrenzt) jeweils konkludent durch Weiterzahlung bzw. Überweisung (vgl. zu dieser Gestaltung BSG, Urteil vom 17. Juni 2008, B 8/9b AY 1/07 R, Juris Rdnr. 11 ff.). Bei unveränderten Verhältnissen erlangt der Bescheid vom 7. Mai 2013 somit Bedeutung auch für die Folgemonate und damit Dauerwirkung. Aufgrund der auf diese Weise unbefristeten Bewilligung der Leistungen ist der Beschwerdegegenstand nicht auf den Monat Juni 2013 beschränkt. Der Antragsteller begehrt ungekürzte Leistungen jedenfalls ab Antragstellung am 14. Juni 2013. Der maßgebliche Beschwerdewert wird bereits durch Leistungseinschränkungen für 6 Monate überschritten.
Die Beschwerde ist auch begründet.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Satz 2). Nach § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) sind der Anordnungsanspruch und der Anordnungsgrund glaubhaft zu machen.
Der Anordnungsgrund folgt aus dem existenzsichernden Charakter der Leistungen (vgl. auch Oppermann in jurisPK-SGB II, Stand 13. November 2013, Rn. 103 zu § 1a AsylbLG).
Ob sich aus § 3 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) in Verbindung mit der Übergangsregelung aufgrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 18. Juli 2012 (1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 Rdnr. 124 ff.) ein Anordnungsanspruch ergibt, kann im Wege der einstweiligen Anordnung nicht abschließend ermittelt werden.
Zwischen den Beteiligten ist umstritten, ob die Durchsetzung der Ausreisepflicht des Antragstellers nur von einer sog. Freiwilligkeitserklärung abhängig ist. Unstreitig ist für deren Durchsetzung erforderlich, dass sich der passl...