Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziale Pflegeversicherung. Verfassungsmäßigkeit des Beitragszuschlags für Kinderlose. Rechtmäßigkeit der Umsetzung der vom BVerfG geforderten Entlastung von pflegeversicherten Eltern gegenüber kinderlosen Versicherten durch den Gesetzgeber
Orientierungssatz
1. Die Erhebung eines Beitragszuschlags für Kinderlose in der sozialen Pflegeversicherung gem. § 55 Abs 3 SGB 11 ist rechtmäßig und verstößt nicht gegen Art 3 Abs 1 GG.
2. Dem Gesetzgeber war freigestellt, die vom BVerfG = 1 BvR 1629/94 = BVerfGE 103, 242 = SozR 3-3300 § 54 Nr 2 = BGBl I 2001, 774 geforderte Differenzierung zwischen Eltern und Kinderlosen in der Pflegeversicherung durch eine Entlastung des einen oder durch Belastung des anderen Personenkreises vorzunehmen. In einem umlagefinanzierten Versicherungssystem, welches die erforderlichen Finanzmittel aus den Beiträgen der Versicherten erhebt, bedeutet die zusätzliche Belastung eines Teils der Versicherten mit einem Beitragszuschlag im Ergebnis nichts anderes als die Entlastung der hiervon nicht betroffenen Gruppe von Versicherten, im vorliegenden Fall also der in der gesetzlichen Pflegeversicherung versicherten Eltern.
Tatbestand
Der Kläger wendet sich gegen seine Heranziehung zum Beitragszuschlag für Kinderlose in der gesetzlichen Pflegeversicherung.
Der bei der Beklagten pflegeversicherte Kläger (geb. 1950) ist kinderlos. Mit Bescheid vom 27. Dezember 2004 hob die Beklagte - im Hinblick auf die Einführung eines Beitragszuschlages für Kinderlose durch die Einführung der Regelung des § 55 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI) mit Gesetz vom 15. Dezember 2004 (BGBl. I 3448) - den Pflegeversicherungsbeitrag des Klägers mit Wirkung ab dem 1. Januar 2005 um 0,25 % auf 38,77 Euro an. Den Widerspruch des Klägers vom 7. Dezember 2004 wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 11. Februar 2005 zurück.
Der Kläger hat am 11. März 2005 Klage zum Sozialgericht Gießen erhoben und die Aufhebung der Beitragssatzanhebung begehrt. Durch die Beitragserhöhung für Kinderlose sehe er sich in dem Gleichheitsgrundrecht des Artikel 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) verletzt.
Mit Urteil vom 1. Juni 2006 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Der Beitrag zur gesetzlichen Pflegeversicherung in Höhe von 1,7 % (§ 55 Abs. 1 Satz 1 SGB XI) erhöhe sich nach § 55 Abs. 3 Satz 1 SGB XI für Mitglieder nach Ablauf des Monats, in dem sie das 23. Lebensjahr vollendet hätten, um einen Beitragszuschlag in Höhe von 0,25 Beitragssatzpunkten (Beitragszuschlag für Kinderlose). Ausgenommen hiervon seien nach § 55 Abs. 3 Satz 2 SGB XI Eltern im Sinne des § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 und Abs. 3 Nrn. 2 und 3 SGB I. Zum Personenkreis der Eltern gehöre der Kläger nicht, weshalb bei ihm der allgemeine Beitragssatz um 0,25 % zu erhöhen gewesen sei. Diese Vorschrift sei auch verfassungsgemäß. Mit dieser Vorschrift habe der Gesetzgeber auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 3. April 2001 (1 BvR 1629/94 - E 103, 242) reagiert. Der Gesetzgeber sei berechtigt gewesen, dem Auftrag des BVerfG durch eine Erhöhung des Beitragssatzes mittels eines Beitragszuschlags für Mitglieder ohne Kinder statt durch eine Beitragsermäßigung für Mitglieder mit Kindern Rechnung zu tragen. Das BVerfG habe in seinem Urteil ausgeführt, dass der Gesetzgeber über einen großen Spielraum bei der Ausgestaltung eines dem GG entsprechenden Beitragsrechts in der sozialen Pflegeversicherung habe; das GG verpflichte ihn lediglich dazu, beitragspflichtigen Versicherten mit einem oder mehreren Kindern gegenüber kinderlosen Mitgliedern der sozialen Pflegeversicherung bei der Bemessung der Beiträge relativ zu entlasten. Es bleibt dem Gesetzgeber überlassen, wie er die Betreuungs- und Erziehungsleistung bei der Beitragsbemessung von beitragspflichtigen mit Kindern berücksichtige. Allerdings sei er von Verfassungs wegen verpflichtet, eine Lösung zu wählen, die Unterhaltsverpflichtete bereits ab dem ersten Kind relativ entlaste. Eine solche relative Entlastung Erziehender habe der Gesetzgeber durch den Beitragszuschlag für Kinderlose vorgenommen. Dabei habe der Gesetzgeber im Anschluss an die Entscheidung des BVerfG auch sachgerecht zwischen den Gruppen der Kinderlosen und der Erziehenden unterscheiden dürfen, so dass dies nicht gleichheitswidrig im Sinne von Artikel 3 Abs. 1 GG sei. Nicht relevant sei, aus welchem Grund Versicherte kinderlos geblieben seien. Der Gesetzgeber habe hierzu in der Gesetzesbegründung (BT-Drucksache 15/3671 vom 3. September 2004) ausgeführt, dass die Gründe, warum jemand keine Kinder habe, für die Zuschlagspflicht keine Rolle spielen sollten. Es gehe auch nicht darum, Kinderlose zu bestrafen, sondern bei der Neuregelung gehe es nach den Vorgaben des BVerfG ausschließlich um ein höheres Maß an Solidarität mit den Kindererziehenden, die mit der Kindererziehung neben ihrem monetären Beitrag einen entscheidenden zusätzlichen Beitrag zum Erhalt des umlagefinanzierten Sozialversicherungssystems leisteten, von dem auch...