Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialhilfe. Hilfe zum Lebensunterhalt. Leistungsausschluss für Ausländer bei fehlendem Aufenthaltsrecht oder Aufenthalt zur Arbeitsuche. verfassungskonforme Auslegung. Anspruch auf Überbrückungsleistungen

 

Leitsatz (amtlich)

1. Der am 29.12.2016 in Kraft getretene Leistungsausschluss für EU-Bürger, die kein Aufenthaltsrecht haben oder dieses nur aus dem Zweck der Arbeitsuche ableiten können, verstößt nicht gegen höherrangiges Recht.

2. Davon betroffene hilfebedürftige Ausländer haben bis zur Ausreise, längstens jedoch für einen Zeitraum von einem Monat, einmalig innerhalb von zwei Jahren Anspruch auf Überbrückungsleistungen.

 

Tenor

Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 12. April 2017 abgeändert und die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig verpflichtet, dem Antragsteller für die Zeit vom 9. März 2017 bis zum 8. April 2017 Überbrückungsleistungen nach Maßgabe von § 23 Abs. 3 Satz 5 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialhilfe (SGB XII) zu gewähren.

Insoweit wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller ein Drittel seiner zur zweckgerichteten Rechtsverfolgung notwendigen außergerichtlichen Kosten für beide Instanzen zu erstatten.

 

Gründe

Die zulässige Beschwerde der Antragsgegnerin, mit der diese beantragt hat,

den Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 12. April 2017 aufzuheben und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen,

ist überwiegend begründet.

Zu Unrecht hat das Sozialgericht dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, mit dem der Antragsteller die vorläufige Gewährung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII), hilfsweise nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG), durch die Antragsgegnerin begehrt, in vollem Umfang stattgegeben. Der Eilantrag kann nur in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang erfolgreich sein.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 und 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Nach § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) sind der Anordnungsanspruch und der Anordnungsgrund glaubhaft zu machen.

Zwischen Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch besteht dabei eine Wechselbeziehung. An das Vorliegen des Anordnungsgrunds sind dann weniger strenge Anforderungen zu stellen, wenn bei der Prüfung der Sach- und Rechtslage das Obsiegen in der Hauptsache wahrscheinlich ist. Ist bzw. wäre eine in der Hauptsache erhobene Klage dagegen offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist wegen des fehlenden Anordnungsanspruchs der Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen. Sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, kommt dem Anordnungsgrund entscheidende Bedeutung zu. Soweit existenzsichernde Leistungen in Frage stehen, sind die Anforderungen an den Anordnungsgrund und den Anordnungsanspruch weniger streng zu beurteilen. In diesem Fall ist u.U. auch anhand einer Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange der Antragsteller zu entscheiden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05, NVwZ 2005, 927; Nichtannahmebeschluss vom 15. Januar 2007 - 1 BvR 2971/06). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung muss für die Abwendung wesentlicher Nachteile nötig sein; d. h. es muss eine dringliche Notlage vorliegen, die eine sofortige Entscheidung erfordert (ständige Rechtsprechung des HLSG, bspw. Beschluss vom 29. Januar 2008, L 9 AS 421/07 ER m.w.N., juris). Eine solche Notlage ist bei einer Gefährdung der Existenz oder erheblichen wirtschaftlichen Nachteilen zu bejahen (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 86b Rn. 29a).

Hiervon ausgehend sind die Anforderungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung (nur) in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang erfüllt.

Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch nur hinsichtlich der Überbrückungsleistungen nach Maßgabe von § 23 Abs. 3 Satz 5 SGB XII und nur für die Zeit vom 9. März 2017 bis 8. April 2017 glaubhaft gemacht.

Ihm steht dagegen kein Anspruch nach dem AsylbLG zu, weil er nicht zum leistungsberechtigten Personenkreis des § 1 Abs. 1 AsylbLG zählt. Der Antragsteller ist insbesondere nicht vollziehbar ausreisepflichtig, wie es § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG verlangt. Der Antragsteller ist bulgarischer Staatsangehöriger und damit grundsätzlich freizügigkeitsberechtigt nach dem Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU). Zwar kann grundsätzlich auch ein illegal...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge