Entscheidungsstichwort (Thema)

Erlass. Verwirkung und Verjährung des Anspruchs auf nachträgliche Entrichtung von Sozialversicherungsbeiträgen

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Das Prinzip der Verpflichtung zur Leistung von Sozialversicherungsbeiträgen darf nicht durch eine großzügige Auslegung der Erlassvorschriften unterlaufen werden.

2. Wenn eine späte nachträgliche Beitragserhebung nicht auf einem Fehlverhalten des Sozialversicherungsträgers beruht, kommt eine Verwirkung des Beitragsanspruchs nicht in Betracht.

 

Normenkette

SGB IV § 76 Abs. 2 S. 1 Nr. 3, Abs. 1, § 20 Abs. 1, § 25 Abs. 1 S. 1; SGB VI § 2 S. 1 Nr. 9; BGB § 242

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 07.05.2014; Aktenzeichen B 12 KR 30/12 B)

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 18. November 2009 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Gründe

I.

Die Beteiligten streiten über den Erlass einer Beitragsforderung.

Der 1958 geborene Kläger ist seit März 1995 freiberuflich als Diplom-Ingenieur im Bereich Elektronik und Dienstleistung tätig. Zwischen ihm und der C. GmbH in Linden besteht ein Vertrag für freie Mitarbeiter.

Am 8. März 2006 stellte der Kläger einen Antrag auf Kontenklärung bei der Beklagten. Mit bestandskräftigem Bescheid vom 1. Juni 2006 stellte die Beklagte fest, dass der Kläger aufgrund seiner selbstständigen Tätigkeit als freiberuflicher Ingenieur ab 1. Januar 1999 der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung für Selbstständige mit einem Auftraggeber gemäß § 2 Nr. 9 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) unterliege.

Mit Bescheid vom 7. Dezember 2006 forderte die Beklagte von dem Kläger Beiträge zur Rentenversicherung ab dem 1. Dezember 2001 bis 31. Dezember 2006 in Höhe von insgesamt 25.183,56 €.

Gegen diesen Bescheid legte der Kläger Widerspruch ein. Er machte geltend, er sei nicht in der Lage, den geforderten Betrag aufzubringen. Durch die einmalige Unterstützung Dritter könne er allerdings etwa 18.000 € als Einmalzahlung leisten, wenn ihm dadurch der Rest erlassen werde. In einem Fragebogen zur Darstellung der wirtschaftlichen Verhältnisse gab der Kläger an, laut Einkommensteuerbescheid für 2005 habe er nach Steuern monatliche Einnahmen von 2.177,15 € bei Ausgaben von 2.148,60 € gehabt. Er verfüge zudem über ein Bankguthaben in Höhe von 8.500 €.

Mit Bescheid vom 28. August 2007 erklärte die Beklagte sich mit einer monatlichen Ratenzahlung in Höhe von 300 € ab Oktober 2007 einverstanden.

Auch gegen diesen Bescheid legte der Kläger Widerspruch ein. Er führte an, dass von den Beträgen zweier Lebensversicherungen nur Teilbeträge zum Ausgleich der Forderung zur Verfügung stünden. Da ihm nach Saldierung der Einnahmen gegenüber den Ausgaben lediglich 30 € Überschuss monatlich verblieben, müsse die Einziehung der Beiträge als unbillig angesehen werden, auch wenn bei einer Weiterverfolgung keine Existenzgefährdung zu besorgen sei.

Mit Widerspruchsbescheid vom 19. Februar 2008 wies die Beklagte die Widersprüche gegen die Bescheide vom 7. Dezember 2006 und 28. August 2007 zurück.

Hiergegen hat der Kläger am 25. März 2008 Klage vor dem Sozialgericht Gießen erhoben. Er sei nicht in der Lage, die nachgeforderten Beiträge zu zahlen. Gemäß § 76 Abs. 2 Nr. 3 Sozialgesetzbuch Viertes Buch (SGB IV) sei ein Erlass von Ansprüchen zulässig, wenn die Einziehung nach Lage des Einzelfalles unbillig wäre. Zudem hat er die Einrede der Verjährung erhoben und die Verwirkung der Beiträge ab dem 1. Dezember 2001 geltend gemacht.

Mit Urteil vom 18. November 2009 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Die gesetzlichen Voraussetzungen zum Erlass der Beitragsforderung lägen nicht vor. Gemäß § 76 Abs. 2 Nr. 3 SGB IV dürfe ein Versicherungsträger Ansprüche nur erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des Einzelfalls unbillig wäre. Diese Vorschrift stelle eine Ausnahme von dem Grundsatz dar, dass die Versicherungsträger dazu verpflichtet seien, ihre Einnahmen rechtzeitig und vollständig zu erheben. Zu den Einnahmen gehörten nach § 20 SGB IV nach Maßgabe der besonderen Vorschriften über die einzelnen Versicherungszweige die Beiträge der Versicherten. Das Prinzip der Beitragserhebung dürfe dabei nicht durch eine zu großzügige Auslegung der Erlassvoraussetzungen unterlaufen werden. Denn mit dem Erlass werde gegenüber dem Schuldner auf einen bestehenden Anspruch ganz oder teilweise verzichtet. Der Anspruch erlösche und seine spätere Geltendmachung sei ausgeschlossen. Damit begünstige der Erlass den Einzelnen zu Lasten der Versichertengemeinschaft. Es sei deshalb zwischen dem Interesse des Versicherungsträgers und der Verpflichtung aus § 76 Abs. 1 SGB IV, Einnahmen rechtzeitig und vollständig zu erheben, und den Individualinteressen des Zahlungspflichtigen abzuwägen. Dies erfordere “enge Maßstäbe„. In diesem Zusammenhang sei das von § 76 SGB IV zu Grunde gelegte Interesse des Versicherungsträgers und das in Bezug genommene und in die Abwägung eingestellte Interesse d...

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