Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Unfallversicherung. Berufskrankheit gem BKV Anl 1 Nr 1317, Nr 1302, Nr 1303, Nr 1306. Nachweis der Erkrankung im Vollbeweis. Erkrankungen durch Halogenkohlenwasserstoff, durch Benzol oder Styrol, durch Methanol. offener BK-Tatbestand. Krankheitsbild. Berufskrankheitenreife nach dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand: generelle Geeignetheit. Gruppentypik. Feststellung: Symptome oder einwirkungstypische biophysikalische oder pathologische Veränderungen. Wirkreaktion auf die Expositionsaufnahme. Chemielaborant. Polyneuropathie oder Enzephalopathie. Somatisierungsstörung. Störungen des Nervensystems
Leitsatz (amtlich)
1. Bei BK-Tatbeständen, die das Krankheitsbild offen lassen (sog "offene" BK-Tatbestände), hat nicht bereits die Aufnahme der im Tatbestand angegebenen Stoffe Krankheitswert.
2. Es werden nur Krankheitsbilder erfasst, für die nach dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand die Voraussetzungen für die Berufskrankheitenreife - generelle Geeignetheit und Gruppentypik iSd § 9 Abs 1 Satz 2 SGB VII - vorliegen.
3. Neben der Einwirkung eines in einem BK-Tatbestand beschriebenen schädigenden Stoffes müssen Symptome oder einwirkungstypische biophysikalische oder pathologische Veränderungen festgestellt werden, die nach den Umständen des Einzelfalls mit Wahrscheinlichkeit eine Wirkungsreaktion auf die Expositionsaufnahme darstellen.
Orientierungssatz
1. Zur Nichtanerkennung einer Berufskrankheit gem BKV Anl 1 Nr 1317 mangels Vorliegens einer Polyneuropathie oder Enzephalopathie im Vollbeweis.
2. Bei den Berufskrankheiten gem BKV Anl 1 Nr 1302, 1303 und 1306 handelt es sich um sogenannte "offene" BK-Tatbestände, dh Berufskrankheiten, die entweder die Noxe oder das Krankheitsbild offen lassen.
Tenor
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 29. Mai 2015 wird zurückgewiesen.
II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig zwischen den Beteiligten ist die Anerkennung der Berufskrankheit Nr. 1317 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BK Nr. 1317; „Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische“) und der BKen Nrn. 1302 „Erkrankungen durch Halogenkohlenwasserstoffe“, 1303 „Erkrankungen durch Benzol, seine Homologe oder durch Styrol“ und 1306 „Erkrankungen durch Methylalkohol (Methanol)“.
Der 1971 geborene Kläger absolvierte vom 1. September 1990 bis zum 8. Februar 1993 eine Ausbildung zum Chemielaboranten bei der C. AG. Nach Abschluss der Ausbildung arbeitete er dort noch bis zum 8. September 1993 als Chemielaborant im Bereich „Ökologie“. Am 1. April 1994 nahm er eine Beschäftigung als Chemielaborant bei D. in D-Stadt auf. Dort arbeitete er bis zum 31. Juli 2001 im Bereich „Forschung und Entwicklung“, bereitete Proben vor und analysierte diese (PB Infus/CPFE-AF-GC-Labor). Ab dem 1. August 2001 war er im Bereich der „Qualitätskontrolle“ tätig. Dort analysierte er Proben und machte Verwaltungsarbeiten (MuP bzw. QMFK). Ab dem 1. Oktober 2008 bis zum Ende seiner Beschäftigung im Herbst 2010 bereitete er wieder Proben vor und analysierte sie (QK Labor Werk D-Stadt). Bis zur Berentung im Jahr 2011 nahm der Kläger danach keine Beschäftigung mehr auf.
Am 6. Oktober 2010 ging bei der Beklagten eine Verdachtsanzeige auf das Vorliegen der Berufskrankheit Nr. 1317 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung von Dr. E. ein. Er gab an, dass der Kläger seit zwei Jahren unter progredienten Konzentrationsschwierigkeiten, zeitweisen Sprechstörungen und Parästhesien an multiplen Körperstellen leide und seit Jahren mit Lösungsmitteln umgehe.
Im Rahmen der Ermittlungen holte die Beklagte u.a. medizinische Unterlagen bei den den Kläger behandelnden Ärzten ein.
Ab dem 8. Januar 2009 war der Kläger nach Angabe der Nervenärztin Frau F. wegen einer ängstlich depressiven somatisch überformten depressiven Episode in Behandlung gewesen. Diese führte aus, dass der Kläger sich privat überfordert und keine Kraft mehr für die Arbeit gehabt habe und unter Antriebslosigkeit, Schlafstörungen und Insuffizienzgefühlen leide. Neurologische Untersuchungen waren ohne Befund geblieben (vgl. den Befundbericht vom 4. November 2010, Bl. 21 der Verwaltungsakte). In einem weiteren Bericht vom 10. März 2011 gab sie an, dass im Verlauf der Behandlung immer mehr körperliche Beschwerden hinzugekommen seien. Unter dem Einsatz von Antidepressiva sei es zunächst zu einer Besserung gekommen. Aufgrund der neu hinzugekommenen unterschiedlichen Beschwerden sei weitere Diagnostik erforderlich gewesen, um eine körperliche Erkrankung auszuschließen. Es bestehe die Möglichkeit, dass seine Beschwerden auf die Labortätigkeit zurückzuführen seien. Ab dem 5. Februar 2009 war der Kläger auch in psychotherapeutischer Behandlung bei Frau G. (vgl. zu den Einzelheiten den Befundbericht vom 18. August 2010, Bl. 32 der Verwaltungsakte) gewesen. Außerdem war ein Reha-Aufenthalt in der S...