Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Liposuktion. stationäre Behandlungsbedürftigkeit. ambulante Behandlungsbedürftigkeit. Abgrenzung
Leitsatz (amtlich)
1. Zur Beurteilung der medizinischen Notwendigkeit einer stationären Liposuktion in Abgrenzung zur ambulanten Behandlung sind die Kriterien der Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Ästhetische Chirurgie zur Liposuktion heranzuziehen.
2. Differenzierungskriterien zwischen ambulanter und stationärer Behandlungsbedürftigkeit sind danach die Menge des abzusaugenden Fettgewebes und die damit zusammenhängenden spezifischen Komplikationsmöglichkeiten.
3. Obwohl die Leitlinien für den außerhalb des Leistungsspektrums der gesetzlichen Krankenversicherung liegenden Anwendungsbereich der ästhetischen Chirurgie entwickelt worden sind, besitzen diese umfassende medizinische Relevanz.
4. Im Bereich der stationären Leistungserbringung müssen die Kriterien der evidenzbasierten Medizin nicht erfüllt sein.
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichtes Kassel vom 29. September 2010 aufgehoben.
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 23. September 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Dezember 2009 verurteilt, die Klägerin mit Liposuktionen zur Behandlung des Lipödems der Arme und Beine und in der Gesäßregion im Rahmen eines stationären Krankenhausaufenthaltes zu versorgen.
Die Beklagte hat der Klägerin die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung entstandenen notwendigen außergerichtlichen Kosten beider Instanzen zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über den Anspruch der Klägerin auf Liposuktionen (Absaugungen von Fettdepotansammlungen) im Rahmen einer stationären Krankenhausbehandlung.
Die 1984 geborene und bei der Beklagten versicherte Klägerin leidet an einer Adipositas mit Beeinträchtigungen der Mobilität bei euthyreoter Stoffwechsellage und einem schmerzhaften Lipödem (Fettgewebsvermehrung) der oberen und unteren Extremitäten unter Beteiligung der Gesäßregion, welches mit Wassereinlagerungen (Ödemen) in das Gewebe einhergeht. Unter Vorlage einer ärztlichen Stellungnahme von Dr. QQ., leitender Arzt der JT.Klinik in BK., vom 16. Juli 2009 beantragte die Klägerin am 20. Juli 2009 die Kostenübernahme für die Durchführung einer wasserstrahlassistierten Liposuktion oder einer Liposuktion in Tumeszenz-Anästhesie. Die Behandlung sei aufgrund der massiven Verschlechterung des Krankheitsbildes indiziert und auch wirtschaftlich, da die Kompressionstherapie nur gegen das Ödem wirke und diese langfristig gesehen deutlich kostenintensiver sei. Nach Einholung eines Gutachtens bei dem Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK), Dr. WW., vom 12. August 2009 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 23. September 2009 die Kostenübernahme für eine Liposuktion ab. Die konservativen Therapiemöglichkeiten seien noch nicht ausgeschöpft, da neben einer Gewichtsreduktion auch Lymphdrainagen zu empfehlen seien. Den Widerspruch der Klägerin vom 30. Oktober 2009 wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 18. Dezember 2009 zurück. Die ambulante Liposuktionsbehandlung sei bis jetzt noch nicht als vertragsärztliche Versorgung zulasten der Krankenkassen anerkannt. Sie gehöre zu den so genannten neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden und nicht zum Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Der Gemeinsame Bundesausschuss müsse insoweit feststellen, ob bei der Liposuktion ein diagnostischer oder therapeutischer Nutzen nachgewiesen werden könne. Eine diesbezügliche Bewertung des Gemeinsamen Bundesausschusses liege bisher noch nicht vor. Diese Rechtsauffassung habe bereits das Bundessozialgericht im Rahmen seiner Entscheidung vom 16. Dezember 2008, B 1 KR 11/08 R bestätigt.
Gegen den Widerspruchsbescheid vom 18. Dezember 2009 hat die Klägerin am 14. Januar 2010 Klage zum Sozialgericht Kassel erhoben und zur Begründung ausgeführt, dass sie durch das genetisch bedingte Lipödem unter äußerst schmerzhaften und dauerhaften Schwellungen und Verformungen der Arme und Beine leide. Die konsequente Kompressionsbestrumpfung an Armen und Beinen und die zwischenzeitlich regelmäßig angewandte manuelle Lymphdrainage bewirkten lediglich eine temporäre Linderung der starken Schmerzen. Beide Behandlungsmaßnahmen stellten zudem erhebliche Eingriffe in ihren Tagesablauf dar und seien mit einer Minderung ihrer Lebensqualität verbunden. So nehme allein das morgendliche Anziehen der Kompressionsstrumpfhosen 25 bis 30 Minuten und die Armbestrumpfung weitere 15 Minuten in Anspruch. Zwar leide sie zusätzlich unter Übergewicht, das sie aber durch ein Abnehmprogramm der Beklagten um 8 kg reduziert habe. Das Lipödem II. Grades könne jedoch gerade nicht durch gewichtsreduzierende Maßnahmen verringert werden. So sei bei ihr trotz des Abnehmens eine Vermehrung des Umfanges der Oberschenkel/Oberarme eingetreten. Im Weiteren verbiete sich eine “klassische„ Berechnung ihres Übergewichtes n...