Entscheidungsstichwort (Thema)
gesetzliche Unfallversicherung. Berufskrankheit. Quasi-Berufskrankheit. Polyneuropathie. Kausalität. Versicherungsfall vor Rückwirkungszeitraum gem § 6 Abs 2 BKV. Requisiteurin
Leitsatz (amtlich)
Dass sich das genaue Ausmaß einer in der Vergangenheit liegenden Belastung nicht mehr feststellen lässt, schließt die Anerkennung einer Polyneuropathie als Berufskrankheit nicht von vornherein aus, da die Berufskrankheit BKV Anl 1 Nr 1317 im Tatbestand zu ihrer Anerkennung keine konkrete Belastungsdosis voraussetzt und es auch keinen dem entsprechenden medizinisch-wissenschaftlichen Konsens gibt. Dies gilt insbesondere für die Gemische von Lösungsmitteln.
Steht eine jahrelange Exposition gegenüber Lösungsmittelgemischen bei absolut unzureichenden arbeitshygienischen Bedingungen fest, spricht dies für das Vorliegen der arbeitstechnischen Voraussetzungen für die BKV Anl 1 Nr 1317, auch wenn eine genaue quantitative Bestimmung der Expostion nicht (mehr) möglich ist.
Das unveränderte Fortbestehen oder die Verschlechterung der Symptome einer Polyneuropathie nach Unterlassung der gefährdenden Tätigkeit sprechen nicht gegen die Annahme einer Berufskrankheit.
Die Asymmetrie des Krankheitsbildes spricht gegen den Ursachenzusammenhang, stellt aber kein Ausschlusskriterium dar.
Orientierungssatz
Zur Anerkennung einer neurotoxischen Polyneuropathie bzw (späteren) asymmetrischen Polyneuropathie einer Requisiteurin als Quasi-Berufskrankheit gem § 551 Abs 2 iVm § 551 Abs 1 S 3 RVO, wenn der Versicherungsfall vor der Aufnahme der Berufskrankheit in die Berufskrankheitenliste (BKV Anl Nr 1317) und auch vor dem Zeitraum der Rückwirkung gem § 6 Abs 2 BKVO (1.1.1993) eingetreten ist.
Tenor
I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 15. Mai 2001 aufgehoben.
II. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 23. Juni 1992 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 2. Dezember 1994 verurteilt, die bei der Klägerin vorliegende Polyneuropathie als Berufskrankheit anzuerkennen und in gesetzlichem Umfang zu entschädigen.
III. Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin für beide Rechtszüge zu erstatten.
IV. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Anerkennung und Entschädigung einer Polyneuropathie als Berufskrankheit.
Die 1938 geborene Klägerin absolvierte nach dem Schulabschluss in D. 1955 bis 1957 ein Praktikum bei einem Zeitungsverlag. Von 1957 bis 1961 besuchte sie die Werkkunst-Schule in D. Danach schlossen sich eine Tätigkeit als Leiterin einer Kunstgalerie und eine Ausbildung für Gestaltung (Institut für Gestaltung in M.) von 1962 bis 1971 an. Von 1971 bis 1981 arbeitete die Klägerin als freie Mitarbeiterin für Unternehmen und erstellte insbesondere Grafik-Entwürfe. Ab dem 1. September 1981 war die Klägerin als Mitarbeiterin der Requisitenabteilung, ab 16. August 1982 als deren Leiterin am Staatstheater D. beschäftigt. Ihr letzter Arbeitstag war der 1. Juni 1985. Ab 2. Juni 1985 war sie wegen einer Muskelatrophie von ihrem Hausarzt, Herrn Dr. N., arbeitsunfähig geschrieben. Das Leiden der Klägerin verschlechterte sich auch nach dem Ausscheiden aus der beruflichen Tätigkeit zunächst. Eine Rückkehr an den Arbeitsplatz erfolgte nicht mehr. Seit März 1986 bezieht die Klägerin Rente wegen Erwerbsunfähigkeit.
Vom 10. Dezember 1985 bis 4. März 1986 befand sich die Klägerin auf Kosten der BfA in einer medizinischen Rehamaßnahme in der O.Klinik, S.. Im Entlassungsbericht vom 8. April 1986 äußern die Ärzte der Klinik den Verdacht auf eine Polyneuropathie. Ursächlich könnten diverse Chemikalien in Frage kommen, mit denen die Klägerin beruflich arbeite. Medikamente, Alkohol oder ein Diabetes kämen ursächlich nicht in Frage.
Mit Schreiben vom 12. Januar 1987 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Anerkennung der Polyneuropathie als Berufskrankheit.
Der von der Beklagten beteiligte Hessische Landesgewerbearzt holte ein neurologisches Gutachten bei Priv.-Doz. Dr. S., Neurologische Klinik der J. Universität in G.ein. Dieser Arzt veranlasste zunächst eine neurophysiologische Zusatzbegutachtung bei Dr. H., Abteilung klinische Neurophysiologie der J.-Universität in G. In seinem Gutachten vom 11. November 1988 kommt dieser Mediziner zu dem Ergebnis, dass zweifellos eine vorwiegend motorische Polyneuropathie bestehe. Priv.-Doz. Dr. S. bestätigt daraufhin in seinem Gutachten vom 1. Dezember 1988 das Vorliegen der Polyneuropathie, vertritt jedoch den Standpunkt, dass sich eine toxische Polyneuropathie weder beweisen noch ausschließen lasse. Der Hauptgrund hierfür liege darin, dass die Klägerin zu keinen weiteren Untersuchungen, insbesondere einer Lumbalpunktion bereit gewesen sei. Da eine toxische Ursache möglich sei, solle ein arbeitsmedizinisches Gutachten erstellt werden.
Am 18. Oktober 1989 suchte der Technische Aufsichtsdienst der Beklagten (TAD) den Arbeitsplatz der Klägerin am Staatstheater auf. In der Stellungnahme des Te...