Entscheidungsstichwort (Thema)
Merkzeichen „H”/Begriff der Hilflosigkeit. geistige Behinderung. mangelnde Rechenfähigkeit. Auslegung der AHP
Leitsatz (amtlich)
Hilflosigkeit i.S. des § 33 b II EStG liegt bei einem geistig Behinderten, dem es insbesondere vollständig an der Rechenfähigkeit mangelt, auch unter Berücksichtigung der AHP dann vor, wenn er die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens zwar selbst ausführen kann, hierzu jedoch in erheblichem Umfang der Aufforderung, Anleitung und Kontrolle durch einen Dritten bedarf.
Normenkette
EStG § 33b; SchwbG § 48 I, § 4 I, § 4 V; SchwbAwV § 3 I
Verfahrensgang
SG Kassel (Urteil vom 26.06.1992; Aktenzeichen S-6B(6)/V-130/89) |
Nachgehend
Tenor
Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 26. Juni 1992 und der Bescheid des Beklagten vom 30. März 1988 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Januar 1989 abgeändert und der Beklagte verurteilt, die gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich „H” festzustellen.
Im übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zur Hälfte zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist die Erhöhung des GdB auf 100 sowie die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleiches „H”.
Für den am 27. Juni 1967 geborenen Kläger beantragten dessen Eltern erstmals am 5. August 1987 die Feststellung nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG). Aus einem zum Antrag eingereichten arbeitsamtsärztlichen Gutachten der Arbeitsamtsärztin N. vom 6. Dezember 1983 ergibt sich, daß der Kläger damals noch für in der Lage gehalten wurde, halb- bis untervollschichtig leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ohne Zeitdruck, nicht unter Verletzungsgefahr, Zwangshaltungen und dem Heben und Tragen von Lasten über 5 kg zu verrichten. Weiter heißt es zu seinem Leistungsbild, daß der Kläger bei der Konfrontation mit üblichen Intelligenzmeßverfahren so weit unter den Alterserwartungen liege, daß eine Zuordnung zum Personenkreis der geistig Behinderten (Debilität) gerechtfertigt erscheine. Als Diagnose wurde benannt: Geistige Retardierung bei Verdacht auf frühkindlichen Hirnschaden, Wirbelsäulenverbiegung. Der Beklagte veranlaßte daraufhin ein nervenärztliches Gutachten bei Dr. P. (Versorgungsärztliche Untersuchungsstelle Kassel). In diesem Gutachten vom 14. März 1988, das nach Untersuchung des Klägers im Beisein seiner Eltern erstellt wurde, führte Dr. P. aus, daß der Kläger bewußtseinsklar, örtlich, zeitlich und zur Person voll orientiert gewesen sei und kein Anhalt für formale Denkstörungen bestanden hätte. Gröbere Hinweise auf eine hirnorganische Wesensänderung hätten sich nicht ergeben. Der Kläger sei von seinen Eltern zur Untersuchungsstelle begleitet worden, was im Hinblick auf die Ergänzung der Vorgeschichte erforderlich gewesen sei, nicht jedoch wegen etwaiger Orientierungslosigkeit. Der Kläger fahre innerhalb Kassels mit dem Fahrrad und mit dem Zug alleine nach Würzburg. Der Kläger bzw. dessen Eltern gaben gegenüber Dr. P. an, daß der Kläger einer Erwerbstätigkeit dergestalt nachgehe, daß er bei einem Familienbetrieb in der Nähe helfe, Holzspielsachen herzustellen. Er erhalte dafür ein Entgelt von 100,00 DM im Monat, Dr. P. führte weiter aus, daß der Kläger unter einem hochgradigen Mangel der Rechenfähigkeit leide und nicht mit Geld umgehen könne. Innerhalb des in den Anhaltspunkten (AHP, Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz, Herausgeber: Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Bonn, 1983) vorgegebenen Bewertungsrahmens eines Grades der Behinderung (GdB) von 30 bis 70 für die beim Kläger festgestellte Erkrankung schätze er den GdB mit 60 ein, weil dem Antragsteller fast vollständig die Rechenfähigkeit fehle und leichtere Störungen der Persönlichkeitsentwicklung und eine Unselbständigkeit in der Lebensführung vorhanden seien. Die Lesefähigkeit, die Eingliederung in eine Tätigkeit, die Möglichkeit selbst Reisen zu unternehmen und in Kassel mit dem Fahrrad zu fahren, rechtfertigten es jedoch nicht, bis zum obersten Begrenzungsrahmen des GdB von 70 zu gehen. Der Kläger sei auch bei den einfachen Verrichtungen des täglichen Lebens nicht hilflos. Mit Bescheid vom 30. März 1988 stellte der Beklagte daraufhin als Behinderung fest: „Leistungsstörungen” und setzte den Grad der Behinderung mit 60 an. Auf den Widerspruch des Vaters des Klägers, der sich wegen der mangelnden Rechenfähigkeit und wegen der mangelnden Fähigkeit des Klägers, mit Geld umzugehen, auf die Zuerkennung des Merkzeichens „H” sowie einen höheren GdB richtete, wies der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 10. Januar 1989 aus den Gründen des Gutachtens des Dr. P. zurück. Zuvor hatte der Vater des Klägers in einem Schreiben vom 2...