Entscheidungsstichwort (Thema)
Überlanges Kostenverfahren. Entschädigungsklage. Erinnerung gegen eine Kostenfestsetzung. Vorbereitungs- und Bedenkzeit von 12 Monaten. Wiedergutmachung auf andere Weise. Geldentschädigung. kein verzögerndes Prozessverhalten. deutliche Überlänge. strukturelle Überlastung des Gerichts. Billigkeit. Herabsetzung des Regelbetrags auf 20 Euro pro Monat. Bindungswirkung eines begrenzten Klageantrags. keine Kostenforderung des Rechtsanwalts. Interesse an zukünftiger Vertretung. sozialgerichtliches Verfahren
Leitsatz (amtlich)
1. Von der Verfahrenslaufzeit des Kostenfestsetzungs- und Erinnerungsverfahren am Sozialgericht sind die Zeiten der aktiven Verfahrensförderung durch das Gericht in Abzug zu bringen; des Weiteren ist sie um die allgemein akzeptierte Vorbereitungs- und Bedenkzeit von 12 Monaten zu bereinigen.
2. Es besteht ein Entschädigungsanspruch in Geld, wenn nach den besonderen Umständen des vorliegenden Falles die Feststellung einer unangemessenen Verfahrensdauer nicht ausreichend für die erforderliche Wiedergutmachung ist.
3. Unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles erscheint dem Senat ein Entschädigungsbetrag von 20,00 Euro pro Monat der Verzögerung als angemessen.
Orientierungssatz
1. Bei dem Erinnerungsverfahren handelt es sich um ein Gerichtsverfahren im Sinne von § 198 Abs 6 Nr 1 GVG und nicht bloß einen unselbstständigen Annex zum vorangegangenen, abgeschlossenen Hauptsacheverfahren.
2. In Verfahren der Erinnerung gegen eine Kostenfestsetzung besteht für eine generelle Reduzierung der allgemeinen Vorbereitungs- und Bedenkzeit von 12 Monaten auch im Hinblick auf die vielfach einfach gelagerten Rechtsfragen der Kostenfestsetzung kein Bedürfnis.
3. Auch für ein überlanges Kostenfestsetzungsverfahren, dass für den Kläger nur von untergeordneter Bedeutung ist, kann eine Geldentschädigung erforderlich sein, wenn der Kläger durch sein Verhalten nicht zur Verlängerung des Verfahrens beigetragen hat, das Kostenfestsetzungsverfahren in seiner Dauer das Hauptsacheverfahren deutlich übertraf und die Überlänge des Verfahrens auf strukturelle gerichtliche Defizite zurückzuführen ist.
4. Eine Herabsetzung des pauschalen Regelbetrags in § 198 Abs 2 S 3 GVG kann sich auch aus der Bindungswirkung des klägerischen Antrags nach § 123 SGG ergeben ("ne ultra petita").
5. Ab einer gewissen Dauer des Kostenfestsetzungsverfahrens gewinnt auch das Interesse des Klägers daran Gewicht, dass sein Bevollmächtigter möglicherweise auch in Zukunft wieder bereit ist, entsprechende Mandate zu übernehmen (Abgrenzung zu LSG Neustrelitz vom 8.6.2016 - L 12 SF 9/14 EK AS).
Tenor
I. Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger wegen überlanger Dauer des vor dem Sozialgericht Kassel unter dem Aktenzeichen S 5 SF 74/15 E geführten Verfahrens eine Entschädigung in Höhe von 480 Euro zzgl. Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens hat der Beklagte zu tragen.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt eine Entschädigung wegen überlanger Dauer des vor dem Sozialgericht Kassel unter dem Aktenzeichen S 5 SF 74/15 E geführten Erinnerungsverfahrens.
Der Kläger erhob am 29. Januar 2014 Untätigkeitsklage beim Sozialgericht Kassel. Das Verfahren endete am 9. Juli 2015 durch Vergleich. In dem Vergleich verpflichteten sich die dortigen beiden Beklagten zur Übernahme je der hälftigen notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers (Bl. 168 S 11 AY 5/14). Ein Antrag auf Prozesskostenhilfe des Klägers wurde nicht beschieden. Im Antrag war ein Bruttoeinkommen von 1.000 Euro angegeben.
Der Prozessbevollmächtigte beantragte mit Schreiben vom 24. Juli 2015, eingegangen am 26. Juli 2015, die Kostenfestsetzung für das Verfahren in Höhe von 904,40 Euro (Bl. 173 f S 11 AY 5/14). Nach Stellungnahme des Beklagten zu 2 setzte der zuständige Urkundsbeamte der Geschäftsstelle die von den Beklagten zu tragenden Kosten am 13. August 2015 auf jeweils 175,53 Euro fest (Bl. 178, 182 S 11 AY 5/14).
Die Kostenfestsetzungsbeschlüsse wurden dem Prozessbevollmächtigten am 14. August 2015 zugestellt (Bl. 186 f S 11 AY 5/14).
Der Prozessbevollmächtigte legte mit Schreiben vom 28. August 2015, eingegangen am 31. August 2015, Erinnerung gegen die Kostenfestsetzung bezüglich des Beklagten zu 2 ein und begehrte eine höhere Festsetzung der Verfahrens- und Terminsgebühr.
Der Urkundsbeamte half der Erinnerung nicht ab.
Das Verfahren wurde unter dem Aktenzeichen S 5 SF 74/15 E geführt.
Nach Eingang wurde der Erinnerungsgegner zur Stellungnahme aufgefordert, dieser nahm am 13. Oktober 2015 Stellung. Der Prozessbevollmächtigte teilte mit Schreiben vom 31. Dezember 2015, eingegangen am 4. Januar 2016, mit, dass eine Stellungnahme als nicht erforderlich angesehen werde, und regte an, ein Gutachten beim Vorstand der Rechtsanwaltskammer einzuholen. Dieses Schreiben wurde zur Kenntnis an den Erinnerungsgegner weiterg...