Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. Merkzeichen H. zeitlicher Hilfebedarf. ständige Überwachung. gesundheitsgefährdendes Essverhalten. ungezügelte Nahrungssuche. Übergewicht
Orientierungssatz
Bei der Zuerkennung des Merkzeichens H (Hilflosigkeit) ist - unabhängig von der Bemessung des Pflegebedarfs in der Pflegeversicherung nach § 14 SGB 11 - auch ein Hilfebedarf in Form von Überwachung und Bereitschaft zur Hilfeleistung zu berücksichtigen, um Gesundheitsschäden bzw -gefährdungen (hier durch gestörtes Essverhalten und ungezügelte Nahrungssuche) zu verhindern (vgl § 33b Abs 6 S 3 und 4 EStG, Teil A Nr 4 Buchst b der Versorgungsmedizinischen Grundsätze) .
Tenor
I. Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 30. März 2017 abgeändert und der Bescheid des Beklagen vom 15. August 2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6. Januar 2014 insoweit aufgehoben, als dem Kläger der Nachteilsausgleich H entzogen wurde.
II. Der Beklagte hat dem Kläger die Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten in beiden Instanzen zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist derzeit noch streitig, ob der Beklagte dem Kläger zu Recht das Merkzeichens H (Hilflosigkeit) entzogen hat.
Der Beklagte hatte bei dem am 13. April 1995 geborenen Kläger mit Bescheid vom 17. Oktober 1995 einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 festgestellt und ihm die Merkzeichen G (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr), B (Berechtigung für eine ständige Begleitung) und H (Hilflosigkeit) zuerkannt. Dabei war er von einer „geistigen und körperlichen Behinderung (Prader-Willi-Syndrom)“ ausgegangen.
Im Rahmen einer Nachprüfung durch den Beklagten im Januar 2013 teilte die Mutter des Klägers mit Schreiben vom 1. Februar 2013 mit, der Kläger werde im kommenden Schulhalbjahr zum Sommer 2013 die Schule mit einem Lernhilfeabschluss (berufsorientierter Abschluss) beenden und fügte ärztliche Berichte des Zentrums für Kinder- und Jugendmedizin des Universitätsklinikums Essen, Prof. Dr. F. u. a. vom 10. Februar 2011, 12. August 2011, 13. Februar 2012 und 21. August 2012 bei, ein Zeugnis der G-Schule A-Stadt für das Schuljahr 2011/2012 und ein Datenblatt 2012/2013 „Förderschwerpunkte und Maßnahmen“, in dem u. a. ein unkontrolliertes Essverhalten des Klägers erwähnt wird.
Mit Schreiben vom 17. Mai 2013 hörte der Beklagte den Kläger zur beabsichtigten Herabsetzung des GdB auf 70 und Entziehung der Merkzeichen G, B und H an, da nach dem Ergebnis der versorgungsärztlichen Auswertung der Befundunterlagen wesentliche Entwicklungsfortschritte vorlägen. Die Mutter des Klägers legte ein MDK-Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit vom 12. April 2013 vor, wonach Pflegebedürftigkeit des Klägers unterhalb der Pflegestufe I angenommen wurde. Allerdings war danach die Alltagskompetenz des Klägers in erhöhtem Maße eingeschränkt. Aufgrund der festgestellten Auffälligkeiten wurde regelmäßig und auf Dauer ein Beaufsichtigungs- und Betreuungsbedarf bejaht. Ferner reichte die Mutter des Klägers einen ärztlichen Bericht des Zentrums für Kinder- und Jugendmedizin des Universitätsklinikums Essen, Prof. Dr. F. u. a. vom 2. Mai 2013 zu den Akten und führte mit Schreiben vom 26. Juni 2013 aus, dass der Kläger, der in einer Einrichtung der J. lebt, aufgrund seiner syndromspezifischen Behinderungen einen erheblichen Bedarf an allgemeiner Beaufsichtigung und Betreuung habe. Er benötige Unterstützung für den ganzen Tag, um das Gewichtsmanagement, Verhaltensmanagement und Krisenmanagement zu gewährleisten. Erst nach vielen Trainingseinheiten könne er seinen Schulweg selbstständig zu Fuß bewältigen. Er führe ein einfaches Handy mit eingespeicherten Nummern mit sich und sobald er mit der Orientierung Schwierigkeiten habe, melde er sich bei ihr. Die partielle Nebenniereninsuffizienz bedinge eine verminderte Immunabwehr. Weiter leide der Kläger unter Stimmungsschwankungen, impulsivem Verhalten mit Starrköpfigkeit und Wutanfällen. Auf Veränderungen reagiere er mit großen Unsicherheiten und Stimmungsschwankungen, momentan erprobe er eine WfbM-Wohnkombination mit dem Besuch einer Werkstatt für behinderte Menschen, mit engmaschiger 24-Stunden-Betreuung.
Mit Bescheid vom 15. August 2013 setzte der Beklagte bei dem Kläger den GdB auf 80 herab und entzog ihm die Merkzeichen G, B und H. Dabei berücksichtigte er die Auswirkungen folgender Funktionsbeeinträchtigungen: Geistige und körperliche Behinderung (Prader-Willi-Syndrom), Zöliakie. Zur Begründung führte er im Wesentlichen aus, nach Auswertung der Unterlagen würden wesentliche Entwicklungsfortschritte beschrieben. Eine erhebliche Beeinträchtigung im Straßenverkehr bzw. Orientierungsstörungen würden nicht mehr beschrieben. Es werde zwar Hilfe bei einzelnen Verrichtungen im täglichen Leben benötigt, dies genüge jedoch nicht, um Hilflosigkeit auf Dauer zu begründen.
Der Kläger legte hiergegen am 29. August 2013 Widerspruch ein ...