Entscheidungsstichwort (Thema)
Opferentschädigung. Mitverursachung. Ausschließungsgründe. selbstgeschaffene Gefahr. Beweislast
Leitsatz (amtlich)
Verlassen Opfer und Täter nach Beendigung einer verbalen Auseinandersetzung gemeinsam den Ort des Streits, stellt dies im Hinblick auf eine spätere schwere Körperverletzung durch den Täter keine selbstgeschaffene Gefahr für das Opfer dar. Dies gilt zumindest dann, wenn dem Opfer keine weitere Provokation nachgewiesen werden kann. Die mangelnde Erweislichkeit eines derartigen „Tatbeitrages” des Opfers im Rahmen der Ausschließungsgründe des § 2 OEG geht zu Lasten des beklagten Landes.
Normenkette
OEG §§ 1-2
Verfahrensgang
SG Gießen (Urteil vom 12.01.1995; Aktenzeichen S-16/Vg-1498/92) |
Tenor
Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 12. Januar 1995 sowie der Bescheid des Beklagten vom 11. November 1992 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Dezember 1992 aufgehoben. Der Beklagte wird dem Grunde nach verurteilt, dem Kläger Versorgungsleistungen wegen der Folgen der rechtswidrigen Tat des Schädigers … vom 2. Januar 1991 in gesetzlicher Höhe nach dem OEG zu gewähren.
Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist die Gewährung von Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG).
Der am 9. Dezember 1964 geborene Kläger erlitt in der Nacht vom 1. auf den 2. Januar 1991 vor der Diskothek … in … Wetzlar durch den Schädiger … schwere Verletzungen. Durch Bescheid vom 2. Oktober 1992 stellte das Versorgungsamt Gießen als Behinderungen nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) beim Kläger eine Halbseitenlähmung links, ein cerebrales Anfallsleiden und eine Hirnleistungsminderung mit sozialen Anpassungsschwierigkeiten nach einem Schädelhirntrauma fest. Den GdB bewertete er mit 100 und stellte das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen der Nachteilsausgleiche „B”, „G”, „H” und „RF” fest. In den vom Senat beigezogenen Akten des Amtsgerichts Wetzlar (Az.: 6 XVII 516/96) zum Betreuungsverfahren findet sich ein nervenärztliches Gutachten der Neurologin und Psychiaterin … vom 17. Dezember 1996. Hierin stellt diese das Vorliegen der folgenden Erkrankungen beim Kläger fest: Hirnorganisches Psychosyndrom infolge einer schweren Hirnverletzung, mit spastischer Halbseitenlähmung links und einer zuletzt vor drei Jahren durch einen epileptischen Anfall zum Ausdruck gelangte symptomatischen Epilepsie. Durch Beschluß vom 4. Februar 1997 ist der Vater des Klägers zu dessen Betreuer mit dem Aufgabenkreis: Aufenthaltsbestimmung und Vermögenssorge bestellt worden.
Durch rechtskräftiges Urteil des Amtsgerichts Wetzlar (Az.: 4 LS 20 Js 1645/91) vom 18. Dezember 1991 wurde der Schädiger zu einer Freiheitsstrafe von 9 Monaten verurteilt. Die Vollstreckung der Freiheitsstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Das Amtsgericht Wetzlar legte seiner Entscheidung folgenden Tatbestand zugrunde:
„Am 1. Januar 1991 besuchte der Angeklagte (Schädiger) gegen 20.00 Uhr mit seiner Ehefrau … die Gaststätte … Dort traf er den ihm bekannten Zeugen … (Geschädigter/Kläger), der ihm später auch den Zeugen … vorstellte. Der Zeuge … gab im Laufe des Abends verschiedene alkoholische Getränke … aus, weil er Vater geworden war. Der Angeklagte und der Zeuge … nahmen daraufhin im Verlaufe des Abends nicht mehr genau feststellbare Mengen verschiedener alkoholischer Getränke zu sich und waren deswegen gegen Mitternacht zwar angetrunken, jedoch nicht sinnlos betrunken oder desorientiert. Etwa in der letzten Stunde vor Mitternacht kam es zwischen dem Angeklagten und dem Zeugen … zu Differenzen, weil der Angeklagte sich von dem Zeugen … provoziert und gereizt fühlte. Einzelheiten dieser angeblichen Provozierung konnten weder der Angeklagte noch andere Zeugen in der Hauptverhandlung schildern. Sowohl der Zeuge … als auch die Zeugin … mer (Pächterin der Diskothek …) forderten den Angeklagten und den Zeugen … auf, friedlich zu bleiben, so daß es auch zunächst nicht zu ernsthaften Tätlichkeiten zwischen beiden kam. Kurz vor Mitternacht gingen … und … zur Toilette … verließ dann vor … die Toilette und begab sich kurz darauf zusammen mit dem Angeklagten zum Ausgang des Lokals, vor dem sich zur Straße hin eine Treppe mit vier bis fünf Stufen befindet. Als … dann die Toilette verließ, sah er den Angeklagten und … auf dem obersten Podest der Treppe vor der Ausgangstür stehen. … hatte dabei das Gesicht zur Straße hingewandt und stand mit dem Rücken zur Tür. Der Angeklagte packte dann … an der Kleidung, zog ihn vor und stieß ihn die Treppe hinunter. … stand wieder auf, kam die Treppe hoch und stellte sich wieder neben den Angeklagten mit dem Rücken zur Eingangstür. … sah und hörte dann, wie der Angeklagte mit einem Finger auf … deutete und sinngemäß erklärte, ihn beleidige kein Mensch, überhaupt keiner. … wollte den Angeklagten daraufhin von … ablenken und bezeichnete ihn als „Arschloch”. Der Angeklagte ...