Entscheidungsstichwort (Thema)
Schulunfall
Leitsatz (amtlich)
1. § 150 Nr. 3 SGG ist auch auf Fälle anzuwenden, in denen über den ursächlichen Zusammenhang zwischen einer versicherten Tätigkeit und einem Unfallereignis zu entscheiden ist.
2. Eine 13-jährige Schülerin, die beim Diktat die Mine ihres Farbstiftes verschluckt, ist dabei gegen Unfall versichert.
Normenkette
SGG § 150 Nr. 3; RVO §§ 548, 539 Abs. 1 Nr. 14b
Verfahrensgang
SG Fulda (Urteil vom 10.01.1975; Aktenzeichen S-1b/U-101/73) |
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Fulda vom 10. Januar 1975 aufgehoben und der Beklagte verurteilt, der Klägerin 672,30 DM zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die am 1. Mai 1959 geborene Beigeladene ist durch ihren Vater bei der Klägerin familienversichert. Nach der Unfallanzeige der Marienschule in F. steckte sie am 30. Mai 1972 während des Schulunterrichts gegen 12.30 Uhr bei einem Diktat ihren Kugelschreiber in den Mund. Dabei löste sich das Endteil des Vierfarbenstiftes, das sie verschluckte. Infolge der notwendig gewordenen stationären Behandlung in den Städt. Krankenanstalten entstanden der Klägerin 672,30 DM an Krankenhauskosten für die Zeit vom 30. Mai bis 7. Juni 1972.
Nachdem der Beklagte eine Erstattung dieses Betrages ablehnte, hat die Klägerin am 6. September 1973 bei dem Sozialgericht Fulda (SG) Klage erhoben. Durch Urteil vom 10. Januar 1975 hat dieses die Klage abgewiesen. Das Verschlucken der Spitze eines Kugelschreibers sei kein Ereignis, das auf typische Gefahren des Schulbetriebes zurückzuführen sei. Der Unfall habe sich zwar während des Schulunterrichts ereignet, stehe aber nicht in ursächlichem Zusammenhang mit diesem, zumal es nicht an der erforderlichen Aufsicht gefehlt habe. Das SG erteilte die Rechtsmittelbelehrung, daß das Urteil mit der Berufung angefochten werden könne.
Gegen das ihr am 28. Februar 1975 durch Empfangsbekenntnis zugestellte Urteil hat die Klägerin am 10. März 1975 schriftlich bei dem Hessischen Landessozialgericht (HLSG) Berufung eingelegt. In Fragen der haftungsbegründenden Kausalität dürfe bei Schülern nicht kleinlich verfahren werden. Ihr Unfallversicherungsschutz müsse möglichst alle Gefahren abdecken, die in örtlichem und zeitlichem Zusammenhang mit dem Schulbesuch aufträten. Durch die Schulpflicht werde der noch nicht erwachsene, lebensunerfahrene Mensch in eine besondere Gefahrenlage gebracht. Das Kauen an der Kugelschreiberspitze während des Diktates sei möglicherweise auch wegen eines bei Kindern stark entwickelten Spieltriebes erfolgt. Hierdurch gehe der Unfallversicherungsschutz jedoch im allgemeinen nicht verloren, da die im jugendlichen Alter stehenden Schüler eine Möglichkeit brauchten, sich abzureagieren.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Fulda vom 10. Januar 1975 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, an sie DM 672,30 zu erstatten.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die im Berufungsverfahren gem. § 75 Abs. 1 Satz 1 SGG Beigeladene hat keinen Antrag gestellt und nichts vorgetragen.
Zur Ergänzung wird auf den Inhalt der Verwaltungs- und Gerichtsakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Der Urteilseingang war dahin zu berichtigen, daß Beklagter das Land Hessen, vertreten durch die Hessische Ausführungsbehörde für Unfallversicherung, ist. Nach § 766 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) nehmen die Aufgaben der Länder als Träger der Unfallversicherung die Ausführungsbehörden wahr, welche die Landesregierungen bestimmen. Die Ausführungsbehörde selbst ist kein Versicherungsträger und damit nicht Beteiligter (vgl. BSG, Urt. v. 30.1.1975 – 2 RU 200/72 und die dort zitierte Rechtsprechung).
Vorliegend handelt es sich um eine echte Leistungsklage eines Versicherungsträgers gegen einen anderen, da ein Verwaltungsakt nicht zu ergehen hatte, wie sich aus § 54 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ergibt (vgl. BSG 24, 156). Nach übereinstimmender Erklärung der Beteiligten ist nur ein Erstattungsbetrag von 672,30 DM streitig, so daß der Berufungsschließungsgrund des § 149 SGG i.d.F. des Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes vom 30. Juli 1974 (BGBl. I S. 1625) vorliegt, da der Beschwerdewert von Eintausend Deutsche Mark nicht überstiegen wird. Dies ist vom SG offensichtlich übersehen worden.
Ungeachtet dieser Bestimmung ist die Berufung aber gem. § 150 Nr. 3 SGG zulässig, wie der Senat bereits entschieden hat (vgl. HLSG, Urt. v. 14.6.1972 – L-3/U-407/70 –). Zwar steht im vorliegenden Falle lediglich der ursächliche Zusammenhang zwischen einem Unfallereignis und eher versicherten Tätigkeit zur Entscheidung, nicht jedoch – dem Wortlaut des § 150 Nr. 3 SGG entsprechend – der „ursächliche Zusammenhang einer Gesundheitsstörung mit einem Arbeitsunfall”. Die Frage, ob beide Fälle gleichzubehandeln sind, ist in Rechtsprechung und Literatur umstritten (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung I S. 250 × mit Nachweisen; für enge Auslegung: Cars...