Entscheidungsstichwort (Thema)
Außergewöhnliche Gehbehinderung (Merkzeichen „aG”), Grad der Behinderung
Leitsatz (redaktionell)
Anspruch auf Feststellung einer außergewöhnlichen Gehbehinderung (Ausweismerkzeichen „aG”) hat nur, wer sich wegen der Schwere seines Leidens praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeugs an nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung bewegen kann.
Normenkette
SGB IX § 21 Abs. 1-2, § 152 Abs. 1 Sätze 1, 5-6, Abs. 3 S. 1, § 229 Abs. 3-4; SGB IX Fassung: 2016-12-23 § 69 Abs. 1; SGB IX Fassung: 2016-12-23 § 146 Abs. 3; VersMedV Anl. zu § 2 TeilB Nr. 13.14; SGB X § 48 Abs. 1 S. 1
Nachgehend
Tenor
I. Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Wiesbaden vom 7. September 2017 wird zurückgewiesen.
II. Die Beteiligten haben einander auch im Berufungsverfahren keine Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin Anspruch auf Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von 100 sowie auf Zuerkennung des Merkzeichens “aG„ (außergewöhnliche Gehbehinderung) hat.
Der Beklagte hatte bei der am 10. Dezember 1968 geborenen Klägerin zuletzt mit Bescheid vom 15. Oktober 2008 einen GdB von 90 festgestellt und war weiterhin vom Vorliegen der Voraussetzungen für die Merkzeichen “G„ (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) und “B„ (Berechtigung für eine ständige Begleitung) ausgegangen. Dabei hatte er die Auswirkungen folgender Funktionsbeeinträchtigungen berücksichtigt:
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___AMPX_•_SEMIKOLONX___X |
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Wirbelsäulensyndrom bei Skoliose, ausstrahlende Beschwerden (Einzel-GdB 30) |
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___AMPX_•_SEMIKOLONX___X |
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Bronchialasthma (Einzel-GdB 20) |
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___AMPX_•_SEMIKOLONX___X |
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Diabetes mellitus (Einzel-GdB 10) |
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___AMPX_•_SEMIKOLONX___X |
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Beinlähmung links nach Poliomyelitis (Einzel-GdB 70). |
Am 26. Februar 2015 stellte die Klägerin einen Änderungsantrag nach dem Schwerbehindertenrecht und begehrte neben der Feststellung eines höheren GdB die Zuerkennung des Merkzeichens “aG„. Sie legte ärztliche Berichte des Schmerz- und Palliativzentrums Rhein Main, Dr. C., vom 21. Februar 2012 und 26. März 2012 vor, in denen ein bei Polioerkrankung hinkendes Gangbild an Unterarmgehstützen beschrieben wurde sowie eine durch Polio stark beeinträchtigte Kraft und Motorik am linken Bein mit deutlicher Muskelatrophie. Des Weiteren reichte die Klägerin einen Befundbericht des Dr. D., Gemeinschaftspraxis für Neurologie und Psychiatrie vom 24. Februar 2012 ein. Die neurologische Untersuchung zeigte eine Beinverkürzung, muskuläre Atrophie und Areflexie des linken Beines nach Poliomyelitis, im Übrigen war der neurologische Befund normal. Außerdem wurde ein Befundbericht des Prof. Dr. E. u. a., Dr. Horst Schmidt Klinik Wiesbaden, vom 12. Juni 2012 mit der Diagnose einer Fraktur des MT3-Köpfchens (nach Abrutschen an einer Bordsteinkante mit dem rechtem Fuß) vorgelegt sowie eine Ambulanzkarte, wonach die Klägerin mit dem verordneten Vorfußentlastungsschuh nicht zu Recht komme.
Der Beklagte holte einen Befundbericht des Dr. F. vom März 2015 ein, dem div. medizinische Unterlagen beigefügt waren. Dr. F. führte aus, die Klägerin sei auf Hilfsmittel (Gehstock) angewiesen. Dr. G. beschrieb im Befundbericht des Schmerz- und Palliativzentrums Rhein Main vom 9. März 2015, dass die Klägerin bei deutlicher Adipositas zwei Unterarmgehstützen benütze. Entsprechend bestätigte der Facharzt für Orthopädie Dr. H. unter dem 12. Juni 2015, dass die Klägerin nur kurze Strecken mit zwei Unterarmgehstrecken bewältigen könne.
Mit Bescheid vom 19. Juni 2015 lehnte der Beklagte den Antrag der Kläger auf Feststellung eines höheren GdB und Zuerkennung des Merkzeichens “aG„ ab, da keine wesentliche Änderung in den gesundheitlichen Verhältnissen eingetreten sei. Den gegen diesen Bescheid am 13. Juli 2015 eingelegten Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 20. August 2015 als unbegründet zurück.
Hiergegen hat die Klägerin am 17. September 2015 Klage bei dem Sozialgericht Wiesbaden (Sozialgericht) erhoben. Zur Begründung hat sie im Wesentlichen geltend gemacht, aufgrund einer poliomyelitischen Totallähmung des linken Beines könne sie ohne die Hilfe ihres Ehemannes keine längeren Strecken zurücklegen und benötige einen Rollstuhl. Selbst kleinere Stecken unter 200 m seien für sie nur mit großer Anstrengung und Hilfe von Pausen und Krücken zu bewältigen. Daher benötige sie zwingend einen entsprechenden Sonderparkausweis. Die Funktion des rechten Beins sei zusätzlich beeinträchtigt.
Das Sozialgericht hat Befundberichte bei Dr. G. vom 4. Mai 2016 und Dr. H. vom 11. Mai 2016 eingeholt. Der Beklagte hat hierzu eine Stellungnahme seines versorgungsärztlichen Dienstes vom 13. Juli 2016 vorgelegt.
Sodann hat das Sozialgericht auf Antrag der Klägerin ein Gutachten bei dem Facharzt für Orthopädie Prof. Dr. J. vom 3. Mai 2017 eingeholt. Dieser hat im Wesentlichen ausgeführt...