Entscheidungsstichwort (Thema)
Insolvenzgeldanspruch. Versäumung der Antragsfrist. Einräumung der Nachfrist. Verschulden. Prozessbevollmächtigter. Sorgfaltspflicht. europarechtskonforme Auslegung
Orientierungssatz
1. Für die Fristenregelung des § 324 Abs 3 SGB 3 reicht die Unkenntnis vom Eintritt des Insolvenzereignisses, des Laufens der Antragsfrist oder der sonstigen Rechtslage nicht aus. Vielmehr muss sie unverschuldet sein, wobei für das Verschulden bereits leichte Fahrlässigkeit genügt. Maßgeblich ist, ob der Antragsteller die Antragsfrist unter Außerachtlassung derjenigen Sorgfalt versäumt hat, die für einen gewissenhaft Handelnden nach den Umständen erforderlich und ihm nach seiner Persönlichkeit zumutbar ist. Bei der Beurteilung, ob der Arbeitnehmer die Fristversäumnis zu vertreten hat, ist ihm grundsätzlich auch das Verschulden seines Bevollmächtigten zuzurechnen.
2. Dieser Sorgfaltsmaßstab wird europarechtlich überlagert. § 324 Abs 3 SGB 3 kann die praktische Wirksamkeit des mit der Insolvenzsicherungsrichtlinie (juris: EWGRL 987/80) gewährten Schutzes nur dann gewährleisten, wenn die zuständigen Stellen nicht "übermäßig streng" beurteilen, ob der Betroffene sich mit der erforderlichen Sorgfalt um die Durchsetzung seiner Ansprüche bemüht hat. Die Anwendung des Sorgfaltsmaßstabes hat sich darüber hinaus daran auszurichten, dass er die Ausübung der von der Gemeinschaftsrechtsordnung eingeräumten Rechte nicht praktisch unmöglich macht oder übermäßig erschwert (vgl LSG Darmstadt vom 26.10.2007 - L 7 AL 185/05).
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 24. März 2010 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger dessen notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Zahlung von Insolvenzgeld für Gehaltsforderungen des Klägers aus den Monaten April und Mai 2006.
Der 1961 geborene Kläger war vom 1. Februar 2006 bis 19. Juni 2006 als Maurer bei der Firma C. in D. beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis wurde vom Arbeitgeber wegen Geschäftsaufgabe zum 9. Juni 2006 mit Schreiben vom 10. Juni 2006 gekündigt.
Der Kläger erhob hiergegen Klage vor dem Arbeitsgericht E. Dort wurde am 10. Oktober 2006 ein Vergleich mit folgendem Inhalt geschlossen:
“1. Die Parteien sind sich darüber einig, dass ihr am 01.02.2006 begründetes Arbeitsverhältnis aufgrund ordentlicher Kündigung des Beklagten vom 10.06.2006 wegen ausschließlich betrieblicher Gründe tariflich fristgemäß mit Ablauf des 19.06.2006 geendet hat.
2. Unter Berücksichtung der Leistungen der Arbeitsverwaltung an den Kläger zahlt der Beklagte zur Abgeltung der Klageforderung an den Kläger für den Monat Februar 2006 1.095,95 € brutto, für den Monat März 2006 908,50 € brutto sowie für den Monat Juni 2006 1.400,00 € brutto und erteilt hierüber dem Kläger ordnungsgemäße monatliche Abrechnungen.
3. Der Beklagte zahlt weiterhin an den Kläger für den Monat April 2006 in Höhe von 412,11 € netto und für den Monat Mai 2006 in Höhe von 1.381,25 € netto.
4. Alle vorstehenden Beträge sind bis spätestens zum 01.11.2006 zur Zahlung fällig, zu Händen der Prozessbevollmächtigten des Klägers. Zahlt der Beklagte nicht rechtzeitig, so sind die ausstehenden Beträge ab dem 02.11.2006 mit 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz zu verzinsen.
5. Damit sind alle gegenseitigen finanziellen Ansprüche der Parteien aus ihrem Arbeitsverhältnis und dessen Beendigung erledigt, auf welchem Rechtsgrund sie auch immer beruhen, bekannt oder unbekannt.
6. Ihre außergerichtlichen Kosten trägt jede Partei selbst, die baren Auslagen des Gerichts werden geteilt."
Nachdem der frühere Arbeitgeber zu dem im Vergleich festgelegten Termin keine Zahlungen erbracht hatte, wurden Vollstreckungsmaßnahmen eingeleitet. Die vollstreckbare Ausfertigung des Vergleichs wurde am 18. Oktober 2006 erteilt. Diese wurde dem Schuldner aufgrund des Zwangsvollstreckungsauftrages des Klägers unter dem Datum vom 4. November 2006 ausweislich der Urkunde am 9. November 2006 durch den Gerichtsvollzieher zugestellt. Der Gerichtsvollzieher unternahm am 20. November 2006 einen erfolglosen Vollstreckungsversuch und lud den Schuldner zur Abgabe der eidesstattlichen Versicherung. Der Inhaber der Firma C. legte am 13. Dezember 2006 im Rahmen eines anderen Vollstreckungsauftrages die eidesstattliche Versicherung ab, dass er zahlungsunfähig sei. Das entsprechende Vermögensverzeichnis ist der Bevollmächtigten des Klägers vom Amtsgericht E. mit Verfügung vom 19. Januar 2007, eingegangen am 22. Januar 2007, übersandt worden.
Zuvor hatte das Amtsgericht E. bereits mit Beschluss vom 31. Oktober 2006 - xxxxx - einen Antrag der AOK auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens mangels einer die Kosten des Verfahrens deckenden Masse abgewiesen.
Am 29. Januar 2007 beantragte der Kläger bei der Beklagten Insolvenzgeld für die Monate April und Mai 2006.
Mit Bescheid vom 6. Februar 2007 lehnte die Beklagte den Antrag ab und begründete dies mit der Versäumun...