Entscheidungsstichwort (Thema)
Überlanges Gerichtsverfahren. Entschädigungsklage. keine Geldentschädigung trotz 29-monatiger Überlänge. Erhebung der Verzögerungsrüge. jahrelang weiter bestehende gerichtliche Untätigkeit. Obliegenheit des Prozessbevollmächtigten zur weiteren Verzögerungserinnerung. kein Dulden-und-Liquidieren. Annahme eines verlorenen Interesses. Vielkläger. vielklagender Prozessbevollmächtigter. übermäßige Inanspruchnahme des Sozialgerichts durch außergewöhnliches und äußerst verzögerndes Prozessverhalten. Wiedergutmachung auf andere Weise. Klagefrist. Unterscheidung zwischen Erhebung der Klage und Rechtshängigkeit. verfrühte Verzögerungsrüge. keine Verzögerungsbesorgnis bei nach außen erkennbarer Inaktivität des Gerichts von 6 Monaten. voneinander abhängige Verfahren vor verschiedenen Kammern um alternative Leistungen. Pflicht des Gerichts zur Fertigung von Aktenkopien anstelle von wiederholten gegenseitigen Aktenbeiziehungen
Orientierungssatz
1. Das Verhalten eines Prozessbevollmächtigten, der sich nach einer (hier verfrühten) Erhebung der Verzögerungsrüge mehr als zweieinhalb Jahre lang nicht mehr zum Verfahren gemeldet hat, kann im Rahmen einer späteren Entschädigungsklage wegen überlanger Dauer des Gerichtsverfahrens als ein Verhalten anzusehen sein, das erkennen lässt, dass der Prozessbevollmächtigte selbst das Verfahren für lange Zeit aus den Augen verloren und es nicht mehr im Interesse der Kläger betrieben hat. Deshalb kann bei (auf längerer Zeit) unterbliebener weiterer (Rück-)Meldung des Prozessbevollmächtigten nach erhobener Verzögerungsrüge eine Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß § 198 Abs 2 S 2 iVm Abs 4 S 1 GVG anstelle einer Geldentschädigung ausreichend sein.
2. Wenn der Kläger eines überlangen Gerichtsverfahrens oder der für ihn auftretende Prozessbevollmächtigte die Arbeitskraft des Gerichts in einem sehr ungewöhnlichen Maß in Anspruch nimmt, ist der Staat zwar immer noch gefordert, zur Gewährleistung des Anspruchs aus Art 6 MRK, Art 19 Abs 4 GG die Masse der Verfahren möglichst zeitnah abzuarbeiten. Dies darf aber nicht zu einer Bevorzugung der Vielkläger oder solcher Prozessbevollmächtigter führen, die ungewöhnlich viele Verfahren vor Gericht führen und durch ihr aus dem Rahmen fallendes Prozessverhalten besonders viel Arbeit in der richterlichen und administrativen Abarbeitung der Verfahren verursachen.
3. Binden Kläger und/oder Prozessbevollmächtigter als sogenannte "Vielkläger" die Arbeitskraft des Sozialgerichts in erheblichem Maße (hier: 47 anhängige Klageverfahren einer Klägerin und 667 anhängige Verfahren ihrer Prozessbevollmächtigten am Sozialgericht), können diese Umstände im Rahmen der Entscheidung, ob für die überlange Dauer eines sozialgerichtlichen Verfahrens anstelle einer Geldentschädigung eine Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß § 198 Abs 2 S 2 iVm Abs 4 S 1 GVG ausreichend ist, negativ berücksichtigt werden.
4. Mit einer Geldentschädigung für eine überlange Verfahrensdauer darf kein Anreiz dafür geschaffen werden, dass Klagen, die für den Betroffenen von (auch für ihn erkennbar) nur geringem Gewicht sind, nur (oder doch in erster Linie) deswegen weiter durchgeführt werden, um auf diese Weise einen finanziellen Vorteil zu erlangen, welcher über das Interesse an dem Ausgangsverfahren (uU sogar deutlich) hinausgeht.
5. Dementsprechend ist ein Entschädigungsanspruch in Geld regelmäßig ausgeschlossen, wenn das mit dem Ausgangsverfahren absehbar zu verwirklichende Interesse nur gering und die Klage (jedenfalls im Übrigen) aussichtslos und dies für den Betroffenen erkennbar war (vgl LSG Celle-Bremen vom 27.5.2020 - L 13 SF 5/19 EK AS; zurückhaltend dagegen LSG Neustrelitz vom 12.2.2020 - L 12 SF 33/18 EK AS).
6. Der Senat schließt sich dem Bayerischen Landessozialgericht an, wonach § 198 Abs 5 S 1 GVG auf die Klageerhebung, nicht auf die Rechtshängigkeit der Klage abstellt (Anschluss an LSG München vom 6.12.2018 - L 8 SF 185/17; vgl hierzu auch BSG vom 17.12.2020 - B 10 ÜG 1/19 R = BSGE 131, 153 = SozR 4-1720 § 198 Nr 20).
7. Bei sozialgerichtlichen Verfahren besteht erst dann iS von § 198 Abs 3 S 2 GVG ein Anlass zur Besorgnis, dass das Verfahren nicht in einer angemessenen Zeit abgeschlossen wird (Verzögerungsbesorgnis), wenn aufgrund des bisherigen Verlaufs des Verfahrens bereits absehbar ist, dass das Gericht nicht mehr mit einer zwölfmonatigen Vorbereitungs- und Bedenkzeit auskommen wird (vgl BSG vom 7.9.2017 - B 10 ÜG 3/16 R = SozR 4-1720 § 198 Nr 14; LSG Neustrelitz vom 12.9.2019 - L 11 SF 58/18 EK AL) - hier: verneint bei 6-monatiger nach außen erkennbarer Untätigkeit des Gerichts.
8. Macht der Kläger vor verschiedenen Kammern des Sozialgerichts für denselben Monat Leistungen geltend, die in einem Alternativverhältnis stehen (hier: SGB II-Leistungen und Asylbewerberleistungen) muss das Gericht anstelle einer wiederholten wechselseitigen Beiziehung der Akten zur Vermeidung von Verfahrensverzögerungen eine Kopie dieser Akten anfertigen.
Nachgehend