Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts. keine Ermessensausübung im Rahmen des § 45 SGB 10 iVm § 49 SGB 10. Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegenüber der Behörde. keine Berücksichtigung von Vertrauensschutz bei der Entscheidung über die Rücknahme des Verwaltungsakts. Sozialversicherungspflicht bzw -freiheit. Einzelfallhelferin im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe. Entgeltvereinbarung. abhängige Beschäftigung. selbstständige Tätigkeit
Leitsatz (amtlich)
Die Entscheidung über die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Bescheides nach § 45 Abs 1 SGB X stellt sich im Falle der Rücknahme eines Verwaltungsakts mit Doppelwirkung nach § 49 SGB X als gebundene Entscheidung dar, bei der die Behörde kein Ermessen auszuüben hat. Ein im Falle der ungleichzeitigen Bekanntgabe dem Begünstigten aufgrund seines Vertrauens in die fehlerhafte Verwaltungsentscheidung bzw in deren vermeintliche Bestandskraft entstandener Schaden ist bei der Entscheidung über die Rücknahme nicht zu berücksichtigen, sondern ggf im Wege des Schadensersatzanspruches gegenüber der Behörde geltend zu machen.
Orientierungssatz
Zur sozialversicherungsrechtlichen Beurteilung einer Tätigkeit als Einzelfallhelferin im Bereich der ambulanten Hilfen gem § 27 iVm §§ 30, 31 sowie gem § 41 SGB 8 (hier: selbstständige Tätigkeit).
Tenor
Auf die Berufungen der Beklagten und des Beigeladenen zu 1. wird das Urteil des Sozialgerichts Fulda vom 28. Januar 2020 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Tätigkeit der Klägerin im Bereich der ambulanten Hilfen gemäß dem Achten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII; hier: als Einzelfallhelferin) für den Beigeladenen zu 1. als öffentlichem Träger der Jugendhilfe im Zeitraum vom 18. März 2011 bis zum 31. März 2015 versicherungspflichtig in der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung war, sowie in diesem Zusammenhang darum, ob bei der Rücknahme eines Verwaltungsaktes gemäß § 45 in Verbindung mit § 49 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB X - Ermessen auszuüben ist.
Die Klägerin ist ausgebildete Erzieherin und hat unter anderem Fortbildungen zur Kinderschutzfachkraft und zur Systemischen Beraterin absolviert. Der Beigeladene zu 1. ist Träger der öffentlichen Jugendhilfe. Zur Erfüllung seiner Aufgaben bediente er sich unter anderem der Dienste der Klägerin. Zu diesem Zweck schloss er zunächst mit der Klägerin, später mit der unter anderem von der Klägerin gegründeten „Therapeutische[n] Partnerschaftsgesellschaft C., H., A.“ eine „Entgeltvereinbarung - Ambulante Fachleistungsstunde gemäß SGB VIII - Kinder und Jugendhilfe“ über die Leistungsart „Ambulante Hilfen gem. § 27 i. V. m. §§ 30, 31 sowie gem. 41 SGB VIII“. Die Partnergesellschaft wurde ausweislich der Angaben der Klägerin ausschließlich mit dem Ziel gegründet, Scheinselbständigkeit auszuschließen. Der Stundensatz „je 60 Minuten Direktkontakt ‚face to face‘ mit dem Hilfeempfänger inkl. Hilfeplangespräche“ für „eine selbständig (unternehmerisch) tätige sozialpädagogische Fachkraft“ betrug zunächst 40 €, später 42 €. Die Zuweisung des jeweiligen Einzelfalles erfolgte jeweils durch Kostenzusicherung für einen bestimmten Zeitraum. Die Abrechnung der erbrachten Leistungen erfolgte durch monatliche Rechnungstellung unter Vorlage von Abrechnungsbögen, in welchen die einzelnen abgerechneten Stunden mit dem jeweiligen Betreuungsinhalt nachgewiesen wurden.
Die Klägerin leitete mit Antrag vom 2. April 2015 ein Statusfeststellungsverfahren nach § 7a Abs. 1 Satz 1 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV) zur Klärung ihres sozialversicherungsrechtlichen Status im Rahmen der Tätigkeit bei dem Beigeladenen zu 1. ein.
Nach Befragung und Anhörung sowohl der Klägerin als auch des Beigeladenen zu 1. (Anhörungsschreiben vom 23. Juni 2015), in denen insbesondere der Beigeladene zu 1. die dargestellten Angaben der Klägerin bestätigte und noch dahin ergänzte, dass mit der Klägerin weder Urlaubsansprüche vereinbart seien noch eine Entgeltfortzahlung bei Krankheit erfolge, stellte die Beklagte durch zwei inhaltsgleiche Bescheide vom 29. Juli 2015, gerichtet an die Klägerin sowie an den Beigeladenen zu 1., die Versicherungspflicht der Klägerin in der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung zunächst für den Zeitraum ab 1. April 2015 fest. Nach Gesamtwürdigung aller zur Beurteilung der Tätigkeit relevanten Tatsachen überwögen die Merkmale, die für eine abhängige Beschäftigung sprächen. Der an den Beigeladenen zu 1. adressierte Bescheid wurde diesem aufgrund eines Versehens seitens der Beklagten zunächst nicht bekanntgegeben.
Mit Schreiben vom 18. August 2015 machte die Klägerin geltend, dass eine abhängige Beschäftigung über die bisherige Feststellung hinaus bereits seit 18. März 2011 besta...