Entscheidungsstichwort (Thema)
Insolvenzgeldanspruch. Versäumung der Antragsfrist. Einräumung der Nachfrist. Verschulden. europarechtskonforme Auslegung
Leitsatz (amtlich)
1. Die Fristenregelung des § 324 Abs 3 SGB 3 ist europarechtskonform und damit restriktiv auszulegen.
2. Ein Arbeitnehmer, der unverschuldet keine Kenntnis von der Insolvenz seines Arbeitgebers hat, ist besonders zu schützen. Solange er darauf vertrauen darf, der Arbeitgeber werde die rückständigen Ansprüche noch befriedigen, ist der Arbeitnehmer grundsätzlich nicht gehalten, vorsorglich einen Antrag auf Insolvenzgeld zu stellen. Er kann sich - nach den Umständen des Einzelfalls - auch dann ausreichend um die Durchsetzung seiner Ansprüche auf Arbeitsentgelt bemüht haben (§ 324 Abs 3 S 3 SGB 3), wenn er diese über einen längeren Zeitraum (hier: etwa 4 Monate nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses) zunächst nur mündlich gegenüber seinem früheren Arbeitgeber geltend macht.
Tenor
I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 28. April 2005 aufgehoben. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 6. Januar 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. März 2004 verurteilt, dem Kläger für die Monate Januar und Februar 2002 Insolvenzgeld in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
II. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten beider Instanzen zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Zahlung von Insolvenzgeld für Gehaltsforderungen des Klägers aus den Monaten Januar und Februar 2002.
Der 1977 geborene Kläger war als Arbeitnehmer der Firma O. G., O., Betriebsleiter der Diskothek “O.„. Mit Schreiben vom 28. Januar 2002 kündigte die Arbeitgeberin das Arbeitsverhältnis zum 28. Februar 2002. In dem Schreiben heißt es, man müsse leider mitteilen, dass alle Versuche gescheitert seien, mit dem Hauseigentümer zu einer Einigung darüber zu kommen, wie der durch die permanenten Regeneinbrüche und die Geruchsbelästigung entstandene Schaden ersetzt werde, wie die notwendigen Sanierungsmaßnahmen erfolgen sollten und wie danach ein ordnungsgemäßer Betrieb des Lokals wieder aufgenommen werden könne. Dabei sei man mit den Vergleichsangeboten bis an die Grenze des wirtschaftlich vielleicht gerade noch Vertretbaren gegangen. Nach dem Umbau sei das “O.„ mit großem Elan zu einer erfolgreichen Diskothek geworden. An diesem Erfolg sei der Kläger maßgeblich beteiligt gewesen. Es bleibe nichts anderes übrig, als die Diskothek zu schließen.
Durch Beschluss des Amtsgerichts AA. vom 17. Mai 2002 wurde der Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der früheren Arbeitgeberin des Klägers mangels Masse abgewiesen.
Mit Schreiben vom 29. Juni 2002 wies der Kläger die Firma O. G. darauf hin, diese sei trotz mehrmaliger mündlicher und telefonischer Aufforderung, das ihm für Januar und Februar zustehende Gehalt zu überweisen, immer noch nicht nachgekommen; sie werde aufgefordert, dies umgehend zu erledigen. Mit weiterem Schreiben vom 7. August 2002 machte der Kläger erneut geltend, dass bislang kein Gehalt auf seinem Konto eingegangen sei, obwohl die GmbH im Anschluss an das Schreiben vom 29. Juni 2002 die Zusage gegeben habe, das Gehalt umgehend durch die Lohnbuchhaltung überweisen zu lassen. Es werde nunmehr eine letzte Frist gesetzt, die offenen Gehaltsansprüche bis zum 21. August 2002 zu überweisen. Ansonsten sehe er sich gezwungen, rechtliche Schritte zu unternehmen.
Zahlungen der früheren Arbeitgeberin erfolgten indes nicht. Diese teilte lediglich mit Schreiben vom 30. August 2002 mit, dass man aufgrund verschiedener bürokratischer Hemmnisse erst heute in der Lage sei, dem Kläger die Insolvenzbescheinigung zu übermitteln, mit der er beim Arbeitsamt die Zahlung des ihm noch zustehenden Lohnes beantragen könne.
Daraufhin beantragte der Kläger am 16. September 2002 bei der Beklagten die Gewährung von Insolvenzgeld. Er gab an, bis Anfang September 2002 keine Kenntnis von der Insolvenz der Arbeitgeberin gehabt zu haben. Mehrfach habe er die Gehaltsansprüche bei dem Mitgesellschafter des Unternehmens, dem Zeugen R. JG. (Sohn der Geschäftsführerin der Firma O. G.), geltend gemacht. Dieser habe ihn immer wieder vertröstet.
Durch Bescheid vom 6. Januar 2004 lehnte die Beklagte die Gewährung von Insolvenzgeld ab, weil der Antrag nicht innerhalb einer Ausschlussfrist von zwei Monaten nach dem maßgeblichen Insolvenzereignis am 17. Mai 2002, der Ablehnung des Antrages auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens, gestellt worden sei. Die Versäumung der Antragsfrist habe der Kläger zu vertreten.
Den dagegen am 14. Januar 2004 erhobenen Widerspruch wies die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 17. März 2004 zurück. Der Kläger habe die Ausschlussfrist zur Stellung des Antrages auf Insolvenzgeld, die vorliegend die Zeit vom 17. Mai 2002 bis zum 17. Juli 2002 umfasse, durch die am 16. September 2002 erfolgte Antragstellung nicht gewahrt. Eine Nachfrist könne ...