Entscheidungsstichwort (Thema)
Vertragsärztliche Versorgung. Ärztlicher Bereitschaftsdienst in Hessen. Erforderlichkeit einer bundesrechtlichen Öffnungsklausel für die verpflichtende Einbeziehung von Privatärzten. abschließende Regelung durch das SGB 5
Orientierungssatz
1. Zur Befreiung eines Privatarztes von der Teilnahme am ärztlichen Bereitschaftsdienst in Hessen.
2. Das SGB 5 regelt Aufgaben und Befugnisse der Kassenärztlichen Vereinigungen mit Ausnahme des von Art 4 § 1 Abs 2 des Gesetzes über Kassenarztrecht (GKAR) (juris: KARG) vom 17.8.1955 (BGBl I 1955, 513) erfassten Bereichs abschließend. Für die verpflichtende Einbeziehung von Privatärzten in einen allein von der Kassenärztlichen Vereinigung durch eine Bereitschaftsdienstordnung geregelten Bereitschaftsdienst im Wege einer landesrechtlichen Delegation oä bedürfte es einer bundesrechtlichen Öffnungsklausel.
3. Teilweise Parallelentscheidung zum Urteil des LSG Darmstadt vom 27.7.2022 - L 4 KA 16/22.
Nachgehend
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Marburg vom 15. Februar 2022 wird zurückgewiesen.
Auf die Anschlussberufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Marburg vom 15. Februar 2022 geändert, der Bescheid der Beklagten vom 9. April 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. März 2021 aufgehoben und festgestellt, dass der Kläger nicht zur Teilnahme am Ärztlichen Bereitschaftsdienst der Beklagten verpflichtet ist.
Im Übrigen wird die Anschlussberufung zurückgewiesen.
Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen zu tragen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Befreiung des Klägers von dem organisierten Ärztlichen Bereitschaftsdienst (ÄBD) der Beklagten.
Der Kläger ist Facharzt für Orthopädie und mit Praxissitz in A-Stadt seit 2015 niedergelassen. Er ist ausschließlich privatärztlich tätig. Nach Mitteilung seines Steuerberaters vom 1. Oktober 2020 betrugen seine Umsätze im Jahr 2017 101.862,00 Euro und im Jahr 2018 87.320,00 Euro.
Die Beklagte informierte - wie schon zuvor mit einem gemeinsamen Schreiben mit der Landesärztekammer vom 20. März 2019 - mit Schreiben vom 15. Mai 2019 die ausschließlich privatärztlich tätigen Ärzte in Hessen, darunter auch den Kläger, über die Einbeziehung der Privatärzte in ihren ÄBD. Sie erläuterte die näheren Umstände der Teilnahme am ÄBD, u.a., dass eine Berücksichtigung in den Dienstplänen erst ab 1. Januar 2020 erfolgen solle.
Der Kläger beanstandete mit Schreiben vom 10. März 2020 die Anzahl der ihm zugeteilten Dienste im ÄBD der Beklagten, da diese unangemessen sei. Die ihm bereits für das Jahr 2020 zugewiesenen acht Dienste habe er an einen kompetenteren Kollegen abgetreten. Er arbeite als Arzt lediglich noch an zwei halben Tagen und einem ganzen Tag pro Woche mit insgesamt 14 Stunden. Die restliche Arbeitszeit sei er als Unternehmer berufsfremd an anderer Stelle tätig. Auch verbringe er den Rest der Woche bei seiner Familie in C-Stadt. Die Fahrzeit zwischen A-Stadt und dem Wohnort der Familie betrage in der Regel 2,5 Stunden in einfacher Richtung. Daher bitte er um vollständige Entbindung von der Teilnahme am ÄBD bzw. Reduzierung der Dienststunden.
Die Beklagte wertete das Schreiben als Antrag auf vollständige Befreiung von der Dienstteilnahme bzw. Reduzierung der Dienststunden, den sie mit Bescheid vom 9. April 2020 ablehnte. Zur Begründung führte sie aus, nach den strikten Bestimmungen ihrer Bereitschaftsdienstordnung (BDO) könne der Teilnahmeumfang nur bei Vorliegen einer abhängigen Beschäftigung reduziert werden. Eine Reduzierung des Teilnahmeumfanges aufgrund eines geringen Praxisumfanges sei hingegen nicht vorgesehen, weshalb eine Ausnahme nach § 3 Abs. 3 BDO nicht möglich sei. Die Reduzierung des Teilnahmeumfangs aufgrund geringeren Praxisumfanges sei für Niedergelassene vorgesehen. Diese Voraussetzungen erfülle er aufgrund der Tätigkeit als Privatarzt ohne Zulassung als Vertragsarzt nicht. Eine Einteilung zu acht Diensten sei nicht unverhältnismäßig.
Gegen den Bescheid vom 9. April 2020 legte der Kläger am 12. Mai 2020 Widerspruch ein. Er trug vor, das Abstellen auf das Fehlen eines parallelen Anstellungsverhältnisses verstoße gegen den Gleichheitsgrundsatz. Wenn bei reduziertem Umfang der privatärztlichen Praxis aufgrund einer Anstellung eine Reduktion der Teilnahme am ÄBD erfolge, müsse dies unabhängig von einer etwaigen Anstellung sein. § 3 Abs. 7 BDO sei auch auf Privatärzte anwendbar. § 3 Abs. 3 BDO verweise auf die nachfolgenden Bestimmungen. Andernfalls würden Privatärzte erheblich gegenüber Vertragsärzten benachteiligt werden.
Die Beklagte wies mit Widerspruchsbescheid vom 17. März 2021 den Widerspruch als unbegründet zurück. Sie führte aus, Vertragsärzte und Privatärzte hätten grundsätzlich die Möglichkeit, unter Bezug auf § 3 Abs. 7 BDO eine Reduzierung bzw. Befreiung von der Teilnahme am ÄBD zu beantragen. Am ÄBD nähmen g...