Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Unfallversicherung. Hinterbliebenenleistungen. Witwenrente. Berufskrankheit. Schlosser. Schweißer. Bronchialkrebs. Haftungsbegründende Kausalität. Ionisierende Strahlung. Thorium-Belastung. Nickel-Belastung. Chrom-Belastung. Schweißrauche. Monokausale Verursachung. Risikoverdoppelung. Synkanzerogene Genese. Wichmann'sche Formel. Unversicherte Nikotinbelastung. Relatives Risiko. Freie Beweiswürdigung. Beweislastumkehr
Leitsatz (redaktionell)
1. Ist zur Feststellung der haftungsbegründenden Kausalität der berufsbedingten Schadstoffexposition an eine Dosis-Wirkungsbeziehung anzuknüpfen, ist die haftungsbegründende Kausalität i.A. mit hinreichender Wahrscheinlichkeit monokausal zu begründen, wenn Intensität und Dauer der Einwirkung des jeweiligen Listenstoffs zu einer Risikoverdoppelung führen. Die Verdoppelungsdosis für Lungentumore liegt bei Erwachsenen nach Einwirkung ionisierender Strahlung im Bereich von 2 Mio. Mikro-Sievert (= 2 Sievert).
2. Anders als der Verordnungsgeber bei Einführung einer BK haben Versicherungsträger und Gerichte bei Prüfung des Einzelfalls kein weit zu fassendes gerichtlich nur beschränkt überprüfbares “Regelungsermessen”, sondern müssen die streitigen Kausalzusammenhänge nach umfassender Sachermittlung auf der Grundlage der freien Beweiswürdigung (§ 128 SGG) mit der geforderten hinreichenden Wahrscheinlichkeit feststellen. Diese wird i.A. erreicht, wenn in einer beruflich exponierten Personengruppe im Vergleich zur nicht exponierten Bevölkerung mehr als doppelt so viele einschlägige Erkrankungsfälle auftreten. Mit Feststellung der epidemiologisch begründeten Risikoverdoppelung spricht bei vorliegenden definierten Expositionsbedingungen statistisch mehr als eine 50 %ige Wahrscheinlichkeit dafür, dass die berufliche Exposition für die Erkrankung ursächlich ist.
3. Zum Nachweis der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs bei Zusammenwirken verschiedener Noxen sind das relative Risiko (RR) und die resultierende Verursachungswahrscheinlichkeit (VW) nach der Wichmann'schen Formel zu ermitteln. Wirken die den Versicherten treffenden Schadstoffe auf dasselbe Organ im Rahmen einer linearen Dosis-Wirkungsbeziehung nach einem additiven Modell ein, so dass die für jeden Stoff ermittelten Bruchteile der Verdoppelungsdosis zu addieren sind, errechnet sich bei Erreichen eines RR von mehr als zwei eine VW von mehr als 50 % entsprechend einer Risikoverdoppelung.
4. Sind Arbeitsbedingungen aus lange zurückliegender Zeit heute nicht mehr rekonstruierbar, ist eine “lebensnahe Beweiswürdigung” in der Form zu praktizieren, dass im Rahmen der freien Beweiswürdigung (§ 128 SGG) – in die auch Billigkeitserwägungen einfließen dürfen – für den Vollbeweis keine zu hohen Anforderungen zu stellen sind und für den Umfang der Exposition beispielsweise eine Schätzung genügen kann, wenn ausreichende Grundlagen für eine solche z.B. in Form von Gefährdungskatastern vorhanden sind. Ein Abweichen vom in der gesetzlichen Unfallversicherung generell zu fordernden Beweisgrad und den Beweismaßstäben oder gar eine Umkehr der objektiven Beweislast lässt sich aber hieraus nicht herleiten.
5. Anders als bei an Berufserkrankte zu erbringenden Lebzeitenleistungen, die der Unfallversicherungsträger für jede BK-Ziffer in einem eigenständigen Verwaltungsverfahren zu prüfen und durch Verwaltungsakt zu bescheiden hat, ist für den Anspruch auf Hinterbliebenenleistungen die Feststellung eines Versicherungsfalls nur ein Tatbestandsmerkmal, d.h. ein unselbstständiges Begründungselement, mit der Folge, dass eine umfassende Prüfung unter Beachtung aller in Betracht kommenden BK-Ziffern vorzunehmen ist.
Normenkette
BKV Anlage 1 Nrn. 1103, 4109, 2402, 4114, 4104; SGB VII § 9 Abs. 1-3, §§ 65, 63 Abs. 1; SGG § 128; SGB I § 59
Tenor
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Marburg vom 31. Mai 2005 wird zurückgewiesen.
II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Hinterbliebenenleistungen unter Anerkennung einer Bronchialkrebserkrankung des am 19. Dezember 1999 verstorbenen Ehemannes der Klägerin, E. D., als Berufskrankheit (BK).
Der 1939 geborene Ehemann der Klägerin, der Versicherte, war von Juni 1966 bis zur Schließung des Unternehmens im November 1996 als Schlosser bei der Firma F. in D-Stadt beschäftigt, die Schlosser- und Schmiedearbeiten für das Baunebengewerbe ausführte und dabei kleinere Stahlkonstruktionen herstellte. Nach Angaben des Unternehmers F. vom 14. März 2001 gegenüber dem Technischen Aufsichtsdienst (TAD) der Beklagten verrichtete der Versicherte in etwa 30 % der Arbeitszeit Schweißerarbeiten. Bis Ende der 70er Jahre wurden meist unlegierte Baustähle überwiegend im Lichtbogenhandverfahren (LBH) mit Elektrode geschweißt, seit Anfang der 80er Jahre überwiegend im Schutzgasschweißverfahren (Metallaktivgasverfahren - MAG). Edelstahl wurde ab Anfang der 80er ...