Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Unfallversicherung. Berufskrankheit. haftungsbegründende Kausalität. Dosis-Wirkungs-Beziehung. Synkanzerogenese. fünf Arbeitsstoffe mehrerer Listen-Berufskrankheiten. 30-jährige Expositionszeit. dasselbe Zielorgan. additives Modell. Wichmann'sche Formel. relatives Risiko. Verursachungswahrscheinlichkeit. Konkurrenzursache. hoher Zigarettenkonsum. wesentliche Mitursache. Beweisnotstand. keine Umkehr der Beweislast gem § 9 Abs 3 SGB 7. Wie-Berufskrankheit. Nichtvorliegen neuer Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft. Bronchialkrebs. Schlosser. Schweißer
Leitsatz (amtlich)
Zur Frage der wesentlichen Mitverursachung eines Bronchialkarzinoms durch die Berufsschadstoffe Chrom, Nickel und Asbest bei gleichzeitiger Nikotinbelastung in einem Ausmaß von 30 Packungsjahren.
Orientierungssatz
1. Sind die Arbeitsbedingungen aus lang zurückliegender Zeit aktuell nicht mehr rekonstruierbar, ist eine "lebensnahe Beweiswürdigung" gem § 128 SGG in der Form zu praktizieren, dass neben dem Einfließenlassen von Billigkeitserwägungen auch an den Vollbeweis keine zu hohen Forderungen zu stellen sind, und für den Umfang der Exposition beispielsweise eine Schätzung genügen zu lassen, wenn ausreichende Grundlagen für eine solche (zB in Form von Gefährdungskatastern) vorhanden sind.
2. Bei Vorliegen von Beweisschwierigkeiten oder eines Beweisnotstandes kann aber nicht vom in der gesetzlichen Unfallversicherung generell zu fordernden Beweisgrad und den Beweismaßstäben abgewichen oder gar eine Umkehr der Beweislast vorgenommen werden.
Nachgehend
Tenor
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Marburg vom 31. Mai 2005 wird zurückgewiesen.
II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Hinterbliebenenleistungen unter Anerkennung einer Bronchialkrebserkrankung des am 19. Dezember 1999 verstorbenen Ehemannes der Klägerin, K. K., als Berufskrankheit (BK).
Der 1939 geborene Ehemann der Klägerin, der Versicherte, war von Juni 1966 bis zur Schließung des Unternehmens im November 1996 als Schlosser bei der Firma B. in M. beschäftigt, die Schlosser- und Schmiedearbeiten für das Baunebengewerbe ausführte und dabei kleinere Stahlkonstruktionen herstellte. Nach Angaben des Unternehmers F. vom 14. März 2001 gegenüber dem Technischen Aufsichtsdienst (TAD) der Beklagten verrichtete der Versicherte in etwa 30 % der Arbeitszeit Schweißerarbeiten. Bis Ende der 70er Jahre wurden meist unlegierte Baustähle überwiegend im Lichtbogenhandverfahren (LBH) mit Elektrode geschweißt, seit Anfang der 80er Jahre überwiegend im Schutzgasschweißverfahren (Metallaktivgasverfahren - MAG). Edelstahl wurde ab Anfang der 80er Jahre verschweißt, dies allerdings nur gelegentlich in maximal 5 % (so Angabe des Unternehmers F.) bzw. 10 % (so Angabe des Arbeitskollegen G.) der Tätigkeit. Für LBH-Schweißarbeiten an Edelstahl kamen nach TAD-Recherchen basische Elektroden mit einem Durchmesser von 2,5 mm beim Heften bzw. 3,25 mm beim Lagenschweißen zum Einsatz. Edelstahl wurde überwiegend im LBH-Verfahren mit Elektrode, in geringem Umfang im MAG-Verfahren eventuell auch im WIG-Verfahren (WIG = Wolfram-Inertgas-Verfahren) verschweißt. Nach ergänzenden Ermittlungen des TAD ist ab Mitte der 80er Jahre das Schutzgasschweißverfahren (MAG oder WIG) vermehrt eingesetzt worden, das nach und nach an die Stelle des LBH-Verfahrens trat, wobei thoriumhaltige Schweißelektroden beim WIG-Schweißen verwandt wurden. Von einer Thorium-Belastung war insbesondere beim Anschleifen der Elektroden auszugehen. In geringem Umfang wurde auch öliges Material verschweißt, wobei dasselbe normalerweise zunächst entfettet und dann geschweißt wurde. Der Versicherte führte auch Schweißarbeiten an verzinkten Teilen aus, wobei er Zinkrauchen ausgesetzt war. Hinzu kamen Schleifarbeiten, Fräsarbeiten, Lackierarbeiten mit Pinsel und Rolle sowie mit der Spritzpistole, u.a. mit Zinkchromatgrund- und Teerfarbe. Für die Dauer von vier Wochen hatte er Umgang mit Asbestzementplatten. Asbestkontakt bestand auch bei der Montage zugeschnittener Eternitplatten als Balkonverkleidung, die vor der Montage angebohrt und selten nachgeschnitten wurden. Bei der ca. drei Monate andauernden Montage astbesthaltiger Brandschutzplatten am Klinikum M. war der Versicherte aushilfsweise tätig. Von 1966 bis 1978 arbeitete die Firma B. in einer alten Halle und nach ihrem Umzug ab 1979 in einer neuen Halle, wobei in der alten Halle keine technische Lüftung vorhanden war. In der neuen Halle war ab 1990 eine Schweißrauchabsaugung installiert. Wegen weiterer Einzelheiten der Arbeitsumstände des Versicherten wird auf die TAD-Berichte vom 25. Oktober 1991, vom 22. Juni 2001 und 27. Februar 2007 Bezug genommen. Nach seinem Ausscheiden aus der Firma B. im November 1996 war der Versicherte nicht mehr berufstätig.
Am 17. Mai 1995 hatte ...