Leitsatz
Umsätze wie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die nicht selbst mit einem Mehrwertsteuerbetrug behaftet sind, sind Lieferungen von Gegenständen, die ein Steuerpflichtiger als solcher ausführt, und eine wirtschaftliche Tätigkeit i.S.d. Art. 2 Nrn. 1, 4 und 5 Abs. 1 der 6. EG-RL in der durch die RL 97/7/EG des Rats vom 10.4.1995 geänderten Fassung, wenn sie die objektiven Kriterien erfüllen, auf denen diese Begriffe beruhen, ohne dass es auf die Absicht eines von dem betroffenen Steuerpflichtigen verschiedenen, an derselben Lieferkette beteiligten Händlers und/oder den möglicherweise betrügerischen Zweck – den dieser Steuerpflichtige weder kannte noch kennen konnte – eines anderen Umsatzes ankommt, der Teil dieser Kette ist und der dem Umsatz, den der betreffende Steuerpflichtige getätigt hat, vorausgeht oder nachfolgt.
Das Recht eines Steuerpflichtigen, der solche Umsätze ausführt, auf Vorsteuerabzug wird auch nicht dadurch berührt, dass in der Lieferkette, zu der diese Umsätze gehören, ohne dass dieser Steuerpflichtige hiervon Kenntnis hat oder haben kann, ein anderer Umsatz, der dem vom Steuerpflichtigen getätigten Umsatz vorausgeht oder nachfolgt, mit einem Mehrwertsteuerbetrug behaftet ist.
Normenkette
Art. 2 Nr. 1, Art. 4 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1 6. EG-RL (vgl. § 1 Abs. 1, § 2, § 3 Abs. 1 UStG)
Sachverhalt
Die in Großbritannien ansässigen Optigen (O), Fulcrum (F) und Bond House (B) kauften hauptsächlich Mikroprozessoren von in Großbritannien ansässigen Gesellschaften, die sie an Kunden in anderen Mitgliedstaaten verkauften, und machten erfolglos Vorsteuerbeträge geltend.
Das vorlegende Gericht ging davon aus, dass tatsächlich Lieferungen erfolgt sind, O, F und B etc. gutgläubig waren und keinen geschäftlichen Kontakt zu den betrügerischen Händlern hatten, die die USt nicht abführten, eine "entwendete" USt-ID-Nr. benutzten oder sich betrügerisch verhielten.
Entscheidung
Der EuGH entschied, wie im Leitsatz wiedergegeben.
Die Absicht oder das betrügerische Ziel, das ein – von dem betroffenen Steuerpflichtigen verschiedener, an derselben Lieferkette beteiligter – Händler bei einem späteren oder früheren Umsatz in der Lieferkette verfolgt, ist für die Beurteilung der Frage, ob bei dem betroffenen Steuerpflichtigen entgeltliche Lieferungen vorliegen und ob es sich (deshalb) um eine wirtschaftliche Tätigkeit handelt, ohne Bedeutung, wenn dieser Absicht oder Ziel weder kannte noch kennen konnte und mit dem betreffenden Händler keinen geschäftlichen Kontakt hatte.
Hinweis
Ein "Karussellbetrug" funktioniert – vereinfacht – grundsätzlich wie folgt:
×Eine Gesellschaft A mit Sitz in einem Mitgliedstaat verkauft Gegenstände an eine Gesellschaft B mit Sitz in einem zweiten Mitgliedstaat.
×Die Gesellschaft B, bei der es sich um den Händler handelt, der seinen Verpflichtungen nicht nachkommt oder eine "entwendete" USt-ID.-Nr. verwendet, verkauft diese Gegenstände mit Preisnachlass an eine Puffergesellschaft C mit Sitz in diesem zweiten Mitgliedstaat weiter. Die späteren Verkäufe können so mit Gewinn getätigt werden. Die Gesellschaft B muss auf den Kauf der betreffenden Gegenstände MwSt. entrichten, hat aber, da sie diese Gegenstände für steuerpflichtige Umsätze verwendet hat, auch ein Recht auf Abzug dieser MwSt. als VSt. Andererseits schuldet B die MwSt., die sie der Gesellschaft C berechnet hat, verschwindet aber, bevor sie den entsprechenden Betrag an die Steuerverwaltung abführt.
×Die Gesellschaft C verkauft die betreffenden Gegenstände ihrerseits an eine weitere Puffergesellschaft D im zweiten Mitgliedstaat weiter, wobei sie die ihrem Abnehmer berechnete MwSt. an die Steuerverwaltung abführt, nachdem sie hiervon die gezahlte VSt abgezogen hat, und so weiter, bis eine Gesellschaft im zweiten Mitgliedstaat die Gegenstände in einen anderen Mitgliedstaat ausführt. Die Ausfuhr ist von der MwSt. befreit, aber die ausführende Gesellschaft hat gleichwohl einen Anspruch auf Erstattung der für den Kauf der Gegenstände gezahlten VSt. Ist der Käufer die Gesellschaft A, handelt es sich um einen echten "Karussellbetrug".
×Das Verfahren kann wiederholt werden.
Es geht um die Frage, ob in solchen Fällen eine Lieferung vorliegt und ob es sich um wirtschaftliche Tätigkeiten handelt, wenn das (Gesamt-)Ziel nur dem Umsatzsteuerbetrug dient. Die Grundsätze zur Beurteilung von Lieferketten mit Betrugselementen sind:
Der Begriff Lieferung ist objektiv zu verstehen; er umfasst jede Übertragung eines körperlichen Gegenstands durch eine Partei, die die andere Partei ermächtigt, über diesen Gegenstand faktisch so zu verfügen, als wäre sie sein Eigentum. Als Steuerpflichtiger (Unternehmer) gilt, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit selbstständig ausübt, gleichgültig zu welchem Zweck und mit welchem Ergebnis. Ein Steuerpflichtiger (Unternehmer) handelt nach ständiger Rechtsprechung des EuGH in dieser Eigenschaft, wenn er im Rahmen seiner steuerbaren (wirtschaftlichen) Tätigkeit Umsätze tätigt.
Der – objektiv festgelegte – Begriff der wirtsc...