Entscheidungsstichwort (Thema)
Urteilsanforderungen bei ohne technische Hilfsmittel festgestelltem "qualifiziertem" Rotlichtverstoß
Orientierungssatz
Orientierungssätze:
1. Wegen der erheblichen Auswirkungen im Rechtsfolgenausspruch muss insbesondere die Feststellung, dass das Rotlicht im Zeitpunkt des Überfahrens der Haltlinie länger als eine Sekunde andauerte, vom Tatrichter nachvollziehbar aus dem Beweisergebnis hergeleitet werden.
2. Damit die Feststellungen eines von einem Zeugen beobachteten sog. qualifizierten Rotlichtverstoßes eine tragfähige Grundlage für die Überprüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht bilden, ist es erforderlich, dass der Tatrichter in den Urteilsgründen die von dem Zeugen angewandte Messmethode darstellt und sie hinsichtlich ihrer Beweiskraft bewertet.
3. Auch für die Bestimmung der Rotlichtdauer gilt der Grundsatz freier richterlicher Beweiswürdigung, weshalb es auch hierfür keinen Numerus Clausus möglicher Beweismittel gibt.
4. Soll durch Zeugenbeweis und ohne technische Hilfsmittel ein qualifizierter Rotlichtverstoß bewiesen werden, so ist eine kritische Würdigung des Beweiswertes geboten.
5. Die Dauer der Rotlichtzeit ist eine sog. doppelrelevante Tatsache; sie betrifft sowohl den Schuld- als auch den Rechtsfolgenausspruch (vgl. KG NZV 2017, 340).
Normenkette
OWiG §§ 46, 71; StPO §§ 261, 267; StVO § 37 Abs. 2
Verfahrensgang
AG Berlin-Tiergarten (Entscheidung vom 14.04.2021; Aktenzeichen 344 OWi 806/20) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 14. April 2021 im Rechtsfolgenausspruch mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben.
Die weitergehende Rechtsbeschwerde wird verworfen.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Rechtsmittels - an dieselbe Abteilung des Amtsgerichts Tiergarten zurückverwiesen.
Gründe
Das Amtsgericht Tiergarten hat den Betroffen wegen eines fahrlässigen Rotlichtverstoßes zu einer Geldbuße von 200 Euro verurteilt und unter Gewährung des Erstverbüßerprivilegs ein einmonatiges Fahrverbot festgesetzt. Die Urteilsfeststellungen haben folgenden abschließenden Wortlaut:
"Am 10.07.2020 gegen 8.50 Uhr befuhr der Betroffene mit dem PKW xxx in B. die A.-straße in Richtung G.-straße. Er befand sich hier zunächst auf der rechten von zwei Geradeausfahrspuren. Obwohl die Lichtzeichenanlage für ihn rot zeigte und auf beiden Geradeausspuren die jeweils ersten Fahrzeuge bereits standen und die jeweils zweiten Fahrzeuge im Anhalten begriffen waren, scherte der Betroffene, der sich dahinter befand, nach rechts auf eine Sperrfläche aus und überfuhr auf dieser Sperrfläche die Haltelinie und überquerte die Kreuzung geradeaus."
Im Rahmen der rechtlichen Würdigung führt das Urteil aus:
"Der Betroffene hat sich eines Rotlichtverstoßes nach §§ 37 Abs. 2, 49 Abs. 3 Nr. 2 StVO schuldig gemacht, wobei feststeht, dass hier auch schon länger als eine Sekunde rot für den Betroffenen leuchtete, als er die Haltelinie überfuhr. Denn es ist lebensfremd, anzunehmen, dass bereits mehrere Fahrzeuge an einer roten Ampel stehen und derjenige, der erst danach die Kreuzung überfährt, hier erst sehr kurz, also maximal eine Sekunde, rot haben sollte."
Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen bleibt in Bezug auf den Schuldspruch erfolglos, dringt aber mit der Sachrüge gegen den Rechtsfolgenausspruch durch.
1. Die gegen den Schuldspruch gerichtete Rechtsbeschwerde ist aus den in der Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft Berlin genannten Gründen unbegründet im Sinne der §§ 79 Abs. 3 OWiG, 349 Abs. 2 StPO.
2. In Bezug auf den Rechtsfolgenausspruch hat die Rechtsbeschwerde Erfolg.
Die Urteilsfeststellungen lassen nicht erkennen, dass der Betroffene einen sog. qualifizierten Rotlichtverstoß begangen hat. Sie belegen zwar, dass der Betroffene bei rotem Ampellicht über die Haltlinie und hiernach in den gesperrten Kreuzungsbereich eingefahren ist, enthalten aber nichts dazu, wie lange das rote Ampellicht bereits leuchtete, als der Betroffene über die Haltlinie fuhr. Feststellungen hierzu waren erforderlich, weil das Tatgericht den Sachverhalt entsprechend gewürdigt und die erschwerten Rechtsfolgen festgesetzt hat.
Es kann offen bleiben, ob die Ausführungen zur rechtlichen Würdigung dieses Säumnis unter dem Gesichtspunkt heilen können, dass die Urteilsausführungen eine Einheit bilden (vgl. BGH AfP 78, 103; Senat, Beschlüsse vom 25. April 2015 - 3 Ws (B) 183/15 - und vom 31. Oktober 2014 - 3 Ws (B) 538/14 -). Denn jedenfalls trägt die Beweiswürdigung nicht die Feststellung, das Ampellicht habe sicher bereits eine volle Sekunde geleuchtet, als der Betroffene über die Haltlinie fuhr.
a) Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts, dem es obliegt, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Das Rechtsbeschwerdegericht hat die subjektive Überzeugung des Tatrichters von dem Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts grundsätzlich hinzunehmen, und es ist ihm verwehrt, seine eigene Überz...