Entscheidungsstichwort (Thema)
Einstweilige Anordnung zur elterlichen Sorge
Leitsatz (amtlich)
1. Auch wenn Verfahren in bestimmten Kindschaftssachen einem Vorrang- und Beschleunigungsgebot unterliegen und die Möglichkeit besteht, im Anhörungstermin einstweilige Anordnungen zu erlassen (§§ 155, 156 Abs. 1, 3 Satz 1 FamFG), kann im Einzelfall gleichwohl ein dringendes Bedürfnis für ein sofortiges Tätigwerden des Gerichts i.S.v. § 49 Abs. 1 FamFG bestehen (Abgrenzung zu OLG Stuttgart, Beschl. v. 30.9.2010 - 16 WF 189/10 -, FamRB 2011, 42).
2. Wenn die Beteiligten in einem früheren Verfahren eine gerichtlich gebilligte Elternvereinbarung abgeschlossen haben, ergibt sich der Abänderungsmaßstab hierfür aus § 1671 Abs. 2 Nr. 2 BGB und nicht aus den höheren Anforderungen des § 1696 Abs. 1 BGB, solange die Elternvereinbarung nicht zu einer Änderung der Sorgeverhältnisse geführt hat.
3. Soweit der im Verfahren der einstweiligen Anordnung von einem Elternteil vorgebrachte Verdacht des sexuellen Missbrauchs des Kindes durch den anderen Elternteil nach Ausschöpfung aller, im Eilverfahren zulässigerweise zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen nicht geklärt werden kann, ist eine umfassende Risikoabwägung unter Berücksichtigung des Kindeswohls vorzunehmen, wobei es vom Grad der Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit der erhobenen Anschuldigungen ankommt, ob eine Sorgeentscheidung zugunsten des betreffenden Elternteils ergehen kann.
4. Der Verfahrensbeistand untersteht nicht der Aufsicht des Gerichts, sondern nimmt seine Aufgaben im Rahmen der Gesetze eigenverantwortlich wahr und deshalb liegt es regelmäßig allein an ihm, zu entscheiden, ob er im Eilverfahren vor dem Anhörungstermin noch einen Hausbesuch macht und mit den Kindern, die er bereits aus mehreren anderen, früheren Verfahren kennt, noch einmal in Kontakt tritt.
Normenkette
BGB §§ 1671, 1696; FamFG § 49
Verfahrensgang
AG Berlin-Tempelhof-Kreuzberg (Aktenzeichen 124 F 3674/12) |
Tenor
Auf die Beschwerde der Mutter wird die einstweilige Anordnung des AG Tempelhof-Kreuzberg vom 28.2.2012 - 124 F 3674/12 - unter Zurückweisung der Beschwerde im Übrigen dahingehend abgeändert, dass dem Vater im Wege der einstweiligen Anordnung das Aufenthaltsbestimmungsrecht und die Gesundheitsfürsorge für die Kinder B., geboren am ...2001, F., geboren am ...2004 und C., geboren am ...2008, allein übertragen wird.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt die Mutter.
Der Beschwerdewert wird auf 1.500 EUR festgesetzt.
Gründe
I. Die Beschwerde der Mutter richtet sich gegen den Beschluss des Familiengerichts vom 28.2.2012. Mit diesem Beschluss hat das Familiengericht, nach mündlicher Erörterung der Sache, die gemeinsame elterliche Sorge der Beteiligten für die drei, aus ihrer zwischenzeitlich rechtskräftig geschiedenen Ehe aufgehoben und diese antragsgemäß dem Vater allein übertragen. Die Mutter meint, das Familiengericht habe die elterliche Sorge zu Unrecht und in verfahrensfehlerhafter Weise dem Vater übertragen; die elterliche Sorge für die gemeinsamen Kinder sei vielmehr allein ihr, hilfsweise einem für die Kinder zu bestellenden Vormund zu übertragen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den angegriffenen Beschluss und, soweit es um das Beschwerdevorbringen geht, auf die Beschwerdeschrift vom 5.3.2012 und die Schriftsätze vom 12. März, 19.3., 23.3., 26.3. sowie vom 27.3. (vier Schriftsätze) 2012 - jeweils nebst teilweise umfangreichen Anlagen - Bezug genommen. Der Vater verteidigt den Beschluss; wegen der Einzelheiten seines Vorbringens wird auf den Schriftsatz vom 30.3.2012 nebst Anlagen verwiesen.
II.1. Die Beschwerde der Mutter ist statthaft (§§ 58 Abs. 1, 57 Satz 2 Nr. 1 FamFG) und auch im Übrigen zulässig; insbesondere wurde das Rechtsmittel form- und fristgerecht eingelegt (§§ 63 Abs. 2 Nr. 1, 64, 65 FamFG).
2. In der Sache ist das Rechtsmittel nur teilweise, in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet; im Übrigen erweist es sich als unbegründet und war deshalb zurückzuweisen. Im Einzelnen:
a) Das Familiengericht war berechtigt, auf den entsprechenden Antrag des Vaters im Wege der einstweiligen Anordnung die elterliche Sorge für die drei, aus der rechtskräftig geschiedenen Ehe der Eltern hervorgegangenen Kinder zu regeln (§§ 49 Abs. 1, 51 Abs. 1 FamFG). Denn der Antrag des Vaters, die Sorge für die Kinder wenn nicht ganz, so doch jedenfalls teilweise ihm allein zu übertragen, ist nach § 1671 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 BGB gerechtfertigt und das Familiengericht hat auch zu Recht angenommen, dass ein Bedürfnis für ein sofortiges Tätigwerden besteht.
Das gilt auch vor dem Hintergrund, dass Kindschaftssachen, die - wie hier - den Aufenthalt des Kindes betreffen, vorrangig und beschleunigt durchzuführen sind (§ 155 FamFG) und in dem danach anzusetzenden frühen Erörterungstermin mit den Beteiligten der Erlass einer einstweiligen Anordnung zu erörtern ist, soweit eine Einigung nicht erreicht werden kann (§ 156 Abs. 3 Satz 1 FamFG). Der vorliegende Fall unterscheidet sich insoweit maßgeblich ...