Entscheidungsstichwort (Thema)
Berücksichtigung neuer, nicht rechtskräftig festgestellter Straftaten für die Prognose nach § 57 Abs. 1 StGB
Leitsatz (amtlich)
1. Neue Straftaten lassen sich für die Verantwortbarkeitsprognose nach § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB auch dann verwerten, wenn sie noch nicht rechtskräftig abgeurteilt, sondern nur mit hoher Wahrscheinlichkeit begangen worden sind. Dies stellt keinen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung dar; denn anders als beim Bewährungswiderruf nach § 56f StGB ist die bedingte Reststrafaussetzung lediglich an das Vorliegen einer günstigen Legalprognose geknüpft.
2. Im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtbetrachtung (§ 57 Abs. 1 StGB) gehen Zweifel über das Prognoseurteil zu Lasten des Verurteilten. Jedoch steht allein der Umstand, dass ein Straf- oder Ermittlungsverfahren wegen erheblicher Straftaten anhängig ist, einer günstigen Prognose ebenso wenig zwingend entgegen wie eine neue Verurteilung, wenn die Hintergründe der abgeurteilten Tat nicht bekannt sind.
3. Ist das Verfahren wegen einer neuen Tat nach § 154 Abs.1 StPO eingestellt worden, hat die Strafvollstreckungskammer - regelmäßig unter Einsichtnahme in die entsprechende Ermittlungsakte - eine eigenverantwortliche Prüfung des Sachverhalts vorzunehmen und diese nachvollziehbar darzustellen.
Normenkette
StPO § 154; StGB § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 2
Verfahrensgang
LG Berlin (Entscheidung vom 20.08.2020; Aktenzeichen 246 Js 1125/16 (29308) V - 593 StVK 100/20) |
Tenor
Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluss des Landgerichts Berlin - Strafvollstreckungskammer - vom 20. August 2020 aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Entscheidung - auch über die Kosten der sofortigen Beschwerde - an die Strafvollstreckungskammer zurückverwiesen.
Gründe
I.
Der Beschwerdeführer verbüßt zur Zeit eine Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren aus dem Urteil des Landgerichts Berlin vom 21. Juni 2018 (519 KLs 5/17) wegen Steuerhinterziehung in neun Fällen (davon in zwei Fällen nur versucht) - unter Einbeziehung der Einzelstrafen aus dem Urteil des Landgerichts Berlin vom 25. August 2016 (519 KLs 5/16) und unter Auflösung der dort gebildeten Gesamtstrafe. Das Urteil ist seit dem 29. Juni 2018 rechtskräftig. Zwei Drittel der Strafe waren am 31. August 2020 verbüßt. Das Strafende ist auf den 31. Dezember 2021 notiert und im Anschluss daran die Vollstreckung einer Ersatzfreiheitstrafe bis zum 9. Januar 2022 vorgesehen.
Vor der Durchführung des Anhörungstermins zur Reststrafenaussetzung hat die Strafvollstreckungskammer bei der Justizvollzugsanstalt H. die Vorlage der Unterlagen betreffend das Ergebnis des durchgeführten Diagnostikverfahrens sowie der aktuellen Vollzugsplanfortschreibung betreffend den Beschwerdeführer angefordert. Deren Vorlage vor dem anberaumten Termin zur Anhörung des Beschwerdeführers unterblieb. Die Justizvollzugsanstalt hatte auf die Anforderung der Strafvollstreckungskammer Unterlagen betreffend einen anderen Gefangenen übersandt. Im Anschluss an die Durchführung der mündlichen Anhörung forderte die Strafvollstreckungskammer einer vorherigen Ankündigung im Anhörungstermin entsprechend die Unterlagen erneut an, die der Strafvollstreckungskammer sodann mit Schreiben der Justizvollzugsanstalt H. vom 7. August 2020 vorgelegt wurden.
Mit Beschluss vom 20. August 2020 hat die Strafvollstreckungskammer die Aussetzung der Vollstreckung des Restes der Freiheitsstrafe zur Bewährung abgelehnt. Hiergegen wendet sich der Verurteilte mit seiner sofortigen Beschwerde, mit der er unter anderem geltend macht, die Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt sei nicht zeitnah zum Anhörungstermin angefordert worden. Daher habe die Strafvollstreckungskammer nicht alle für den Beschwerdeführer sprechenden Umstände berücksichtigt.
II.
Das Rechtsmittel ist nach § 454 Abs. 3 Satz 1 StPO statthaft und auch im Übrigen zulässig, insbesondere fristgerecht erhoben (§ 311 Abs. 2 StPO). In der Sache ist ihm zumindest vorläufig der Erfolg nicht zu versagen.
In ihrer Zuschrift vom 7. Oktober 2020 hat die Generalstaatsanwaltschaft Berlin insoweit ausgeführt (...):
"Die Entscheidung der Strafkammer, die die von dem Beschwerdeführer beantragte Reststrafenaussetzung abgelehnt hat, da ihm die für eine Entlassung aus der Strafhaft erforderliche Prognose nach § 57 Abs.1 Satz 1 Nr. 2 StGB noch nicht gestellt werden kann, begegnet aber (...) durchgreifenden Bedenken.
a.
Es ist bereits fraglich, ob eine ausreichende Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt H. zur Frage der bedingten Entlassung eingeholt worden ist.
Die Strafkammer hat bei der Entscheidung allein die Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt H. vom 12. Mai 2020 berücksichtigt. Der bis zum Anhörungstermin allein vorliegende Vollzugsplan vom 17. Februar 2020 betrifft einen anderen Inhaftierten. Erst nach dem Anhörungstermin wurde ein den Beschwerdeführer betreffender Vollzugsplan (...) beigezogen.
Der Verurteilte gibt in seiner Beschwerdebegründung an, dass er seit dem Datum der Stellungnahme der JVA u.a. eine...