Leitsatz (amtlich)
1. Hat das Landgericht zu Unrecht die Voraussetzungen des § 313 Abs. 1 StPO angenommen oder besteht Streit über diese Frage, so ist § 322a Satz 2 unanwendbar und gegen den Nichtannahmebeschluss die sofortige Beschwerde entsprechend § 322 Abs. 2 StPO zulässig.
2. Wird der Angeklagte auf Antrag (auch) der Staatsanwaltschaft freigesprochen, ist § 313 Abs. 1 Satz 2 StPO weder unmittelbar noch entsprechend anwendbar. Dies gilt auch dann, wenn zunächst ein Strafbefehl mit einer Geldstrafe von nicht mehr als 30 Tagessätzen beantragt worden war.
3. Nachfolgende Erklärungen oder Einschätzungen der Staatsanwaltschaft haben für die Beurteilung als Bagatellstraftat ebenso außer Betracht zu bleiben wie vorausgehende Anträge oder sonstige Erklärungen.
Verfahrensgang
LG Berlin (Entscheidung vom 30.11.2016; Aktenzeichen (581 Ns) 231 Js 578/15 (116/16)) |
Tenor
Auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Berlin wird der Beschluss des Landgerichts Berlin vom 30. November 2016 aufgehoben.
Die Sache wird zur weiteren Behandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens, an die Strafkammer zurückgegeben.
Gründe
I.
Das Amtsgericht Tiergarten erließ auf Antrag der Staatsanwaltschaft Berlin am 7. April 2015 gegen den Angeklagten einen Strafbefehl wegen Zuwiderhandlung gegen § 27 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 17a Abs. 1 VersG. In dem Strafbefehl wurde antragsgemäß eine Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu je 20 Euro verhängt. In der auf den Einspruch des Angeklagten anberaumten Hauptverhandlung am 15. März 2016 wurde der Angeklagte - entsprechend dem Antrag des Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft - aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Gegen dieses Urteil hat die Staatsanwaltschaft am 18. März 2016 Berufung eingelegt. Sie erstrebt die Verurteilung des Angeklagten wegen des ihm mit dem Strafbefehl zur Last gelegten Deliktes zu einer tat- und schuldangemessenen Strafe.
Das Landgericht hat die Berufung mit dem angefochtenen Beschluss nach § 313 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 StPO als unzulässig verworfen, da diese der Annahme bedürfe und die Voraussetzungen hierfür wegen offensichtlicher Unbegründetheit nicht vorlägen. Gegen diesen ihr am 2. Dezember 2016 zugestellten Beschluss wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer sofortigen Beschwerde vom 5. Dezember 2016. Sie macht geltend, dass die Voraussetzungen des § 313 Abs. 1 Satz 2 StPO nicht vorlägen.
II.
1. Die sofortige Beschwerde ist zulässig, insbesondere fristgerecht erhoben (§ 311 Abs. 2 StPO) und in entsprechender Anwendung des 322 Abs. 2 StPO statthaft.
Zwar ist die Entscheidung über die Nichtannahme der Berufung nach § 313 Abs. 2 Satz 2 StPO grundsätzlich unanfechtbar (§ 322a Satz 2 StPO). Dies gilt jedoch nur dann, wenn tatsächlich ein Fall des § 313 Abs. 1 StPO gegeben ist, in dem die Berufung der Annahme bedarf. Hat das Landgericht jedoch zu Unrecht die Voraussetzungen dieser Vorschrift angenommen oder besteht Streit über diese Frage, so ist § 322a Satz 2 unanwendbar und gegen den Nichtannahmebeschluss die sofortige Beschwerde entsprechend § 322 Abs. 2 StPO zulässig (std. Rspr. der Oberlandesgerichte; vgl. Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 10. April 2013 - 1 Ws 56/13 - juris; OLG Dresden NStZ 2011, 477; HansOLG Hamburg JR 1999, 479; OLG Hamm VRS 95, 382 und NStZ 1996, 455; OLG Köln NStZ 1996, 150, 151; OLG Koblenz NStZ-RR 2000, 306; NStZ 1994, 601; OLG Oldenburg NdsRpfl 1995, 135; OLG Schleswig SchlHA 2000, 256; OLG Stuttgart Justiz 2000, 425; Senat, Beschluss vom 16. August 2016 - 5 Ws 120/16 -; KG, Beschluss vom 7. Mai 1997 - 3 Ws 226/97 - juris; Paul in Karlsruher Kommentar, StPO 7. Aufl., § 322a Rdn. 1; Gössel in Löwe/Rosenberg, StPO 26. Aufl., § 322a Rdn. 10 f.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 59. Aufl., § 322a Rdn. 8; ferner [ohne Festlegung auf die Art des statthaften Rechtsmittels] OLG Jena StraFo 2000, 92; OLG Karlsruhe MDR 1996, 517). So liegt es hier.
2. Das Rechtsmittel hat auch in der Sache Erfolg. Der angefochtene Beschluss unterliegt der Aufhebung, da das Landgericht zu Unrecht die Voraussetzungen des § 313 Abs. 1 Satz 2 StPO angenommen hat.
a) Zwar ist der Angeklagte freigesprochen worden. Jedoch hatte die Staatsanwaltschaft in ihrem Schlussvortrag nicht eine Geldstrafe von nicht mehr als 30 Tagessätzen, sondern einen Freispruch beantragt. Die vorliegende Fallkonstellation wird damit vom Wortlaut des § 313 Abs. 1 Satz 2 StPO nicht erfasst. Eine entsprechende Anwendung kommt wegen des Ausnahmecharakters der Vorschrift, der eine enge Auslegung erfordert, nicht in Betracht (vgl. Brandenburgisches OLG a.a.O.; OLG Hamm VRS 95, 382; OLG Jena a.a.O.; OLG Karlsruhe a.a.O.; OLG Köln a.a.O.; OLG Koblenz NStZ 1994, 601; OLG Stuttgart a.a.O.; Senat a.a.O.; KG a.a.O.; Gössel, a.a.O., § 313 Rdn. 35; grundsätzlich zustimmend auch OLG Koblenz NStZ-RR 2000, 306; OLG Schleswig a.a.O.).
Die entsprechende oder sinngemäße Anwendung des § 313 Abs. 1 Satz 2 StPO ist auch mit dem gesetzgeberischen Zweck, im Bereich der Bagatellkriminalität eine ...