Leitsatz (amtlich)
Zu den Voraussetzungen, unter denen nach § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG ein Beweisantrag abgelehnt werden kann
Verfahrensgang
AG Berlin-Tiergarten (Entscheidung vom 23.08.2018) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 23. August 2018 mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde - an das Amtsgericht Tiergarten zurückverwiesen.
Gründe
Das Amtsgericht Tiergarten hat den Betroffenen wegen fahrlässiger Missachtung eines roten Wechsellichtzeichens zu einer Geldbuße von 200 Euro verurteilt und ein einmonatiges Fahrverbot mit einer Wirksamkeitsbestimmung nach § 25 Abs. 2a StVG festgesetzt.
Die dagegen gerichtete Rechtsbeschwerde des Betroffenen, mit der die Verletzung formellen und sachlichen Rechts gerügt wird, hat (vorläufigen) Erfolg.
Die Generalstaatsanwaltschaft Berlin hat zu dem Rechtsmittel in ihrer Zuschrift vom 9. November 2018 wie folgt Stellung genommen:
"Sie [Anm. des Senats: Die Rechtsbeschwerde] dringt mit den zulässig erhobenen Verfahrensrügen durch, das Amtsgericht habe einen Beweisantrag auf Vernehmung der Ehefrau des Betroffenen, der Zeugin Y, zu Unrecht abgelehnt und es habe die Feststellungen nicht aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung geschöpft.
1. Der Beschluss, mit dem das Amtsgericht die Vernehmung der Zeugin Y, die bekunden sollte, dass sie das Fahrzeug zum fraglichen Zeitpunkt geführt habe, abgelehnt hat, hält rechtlicher Prüfung [Anm. des Senats: Zu ergänzen ist hier offenkundig "hält rechtlicher Prüfung nicht stand"].
Das Amtsgericht führt aus, dass die Beweiserhebung zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich sei (§ 77 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 3 OWiG), weil der anthropologische Sachverständige Dr. X ausgeschlossen habe, dass auf den bei den Akten befindlichen Belegfotos eine Frau als Fahrerin zu erkennen sei. Ferner habe der Betroffene sich in der Hauptverhandlung nicht eingelassen und somit die nunmehr benannte Zeugin ebenso wie in seinen früheren Einlassungen nicht als Fahrerin des Tatfahrzeugs ins Feld geführt.
Auch im Ordnungswidrigkeitenverfahren ist das Gericht gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 OWiG verpflichtet, die Wahrheit vom Amts wegen zu erforschen. Den Umfang der Beweisaufnahme hat der Amtsrichter - unter Berücksichtigung der Bedeutung der Sache (§ 77 Abs. 1 Satz 2 OWiG) - nach pflichtgemäßem Ermessen zu bestimmen. In § 77 Abs. 2 OWiG ist für die Beweisaufnahme im Bußgeldverfahren zudem eine über das Beweisantragsrecht der Strafprozessordnung (§ 244 Abs. 3 bis 5 StPO) hinausgehende Sondervorschrift normiert. Danach kann das Gericht, wenn es den Sachverhalt nach dem bisherigen Ergebnis der Beweisaufnahme für geklärt hält, einen Beweisantrag auch dann ablehnen, wenn nach seinem pflichtgemäßen Ermessen die Beweiserhebung zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich ist (§ 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG). Hierzu müssen drei Voraussetzungen vorliegen: Es muss bereits eine Beweisaufnahme über eine entscheidungserhebliche Tatsache stattgefunden haben, aufgrund der Beweisaufnahme muss der Richter zu der Überzeugung gelangt sein, der Sachverhalt sei geklärt und die Wahrheit gefunden und die beantragte Beweiserhebung muss nach dem pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts zur weiteren Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich sein (vgl. OLG Celle NZV 2010, 634 f.; Seitz/Bauer in Göhler, OWiG, 17. Aufl., § 77 Rdnr. 11). Damit ist das Gericht unter Befreiung vom Verbot der Beweisantizipation befugt, Beweisanträge nach § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG zurückzuweisen, wenn es seine nach § 77 Abs. 1 Satz 1 OWiG prinzipiell fortbestehende Aufklärungspflicht nicht verletzt (vgl. OLG Celle NZV 2009, 575; Seitz/Bauer in Göhler, a. a. O., § 77 Rdnrn. 12, 14 und 16).
Gemessen an diesen Maßstäben verletzt die Ablehnung des Beweisantrages das Beweisantragsrecht des Betroffenen. Denn die Grundlage, die das Amtsgericht seiner Überzeugung von der Fahrereigenschaft des Betroffenen zugrunde gelegt hat, ist nicht so verlässlich, dass die Möglichkeit, das Gericht könne in seiner Überzeugung durch eine weitere Beweisaufnahme erschüttert werden, vernünftigerweise auszuschließen ist. Weder in dem Beschluss selbst noch in den Urteilsgründen erfolgt eine weitere Begründung, aufgrund welcher Kriterien der Sachverständige eine weibliche Person als Fahrer ausgeschlossen hat. Es wird auch nicht deutlich, welche bei den Akten befindlichen "Belegfotos", die auch Gegenstand des Urteils geworden sind, der Sachverständige hierbei einbezogen hat. Insoweit kann auch bei der Prüfung, ob die Aufklärungspflicht die Beweiserhebung auch unter Berücksichtigung der bisherigen Beweisaufnahme gebot, nicht außer Betracht bleiben, dass sich bei den auf die zulässige Verfahrensrüge zugänglichen Akten zwei Lichtbilder befinden (Bl. 63 oben und Bl. 70 d. A.), die nicht mit dem Lichtbild Bl. 4 d. A. des Fahrzeugführers übereinstimmen, sondern unter derselben Nr. 81523922 eine Person mit einer anderen Ko...