Entscheidungsstichwort (Thema)
Zuständigkeit der allgemeinen Strafkammer im Falle der betrügerischen Abrechnung von Pflegeleistungen
Leitsatz (amtlich)
1. Der Staatsanwaltschaft steht die sofortige Beschwerde nach § 210 Abs. 2, 2. Alt. StPO zu, wenn das ursprünglich entsprechend ihrem Antrag vor der (allgemeinen) großen Strafkammer eröffnete Verfahren nach § 209 Abs. 2 StPO einem Gericht höherer Ordnung vorgelegt wird, dieses das Verfahren vor dem vorlegenden Gericht oder einem anderen ihm gegenüber niedrigeren Gericht eröffnet und sich die Staatsanwaltschaft sodann im Rahmen des Vorlageverfahrens der Auffassung des vorlegenden Gerichts ausdrücklich angeschlossen oder die Vorlage an das Gericht höherer Ordnung selbst angeregt hat.
2. Besondere Kenntnisse des Wirtschaftslebens sind im Sinne des § 74c Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 Buchst. a GVG zur Beurteilung des Falles erforderlich, wenn wirtschaftliche Zusammenhänge zu bewerten sind, die außerhalb der allgemeinen Erfahrung eines Richters liegen und Spezialwissen erfordern. Dies ist namentlich dann der Fall, wenn durch den Missbrauch komplizierter und schwer zu durchschauender Mechanismen des modernen Wirtschaftslebens Straftaten begangen worden sind und zum Beispiel spezifische Kenntnisse zu Buchhaltung und Bilanzierung erforderlich sind. Demgegenüber kommt es für die Frage der Zuständigkeit der Wirtschaftsstrafkammer auf die Höhe des Schadens, die Zahl der Täter oder Geschädigten, eine außerordentliche volkswirtschaftliche Bedeutung der Sache, eine besondere Sozialschädlichkeit der angeklagten Taten oder Schwierigkeiten rechtlicher oder tatsächlicher Art nicht an. Unerheblich ist insoweit auch, ob eine äußerst schwierige und umfangreiche Sachverhaltsaufklärung zu erwarten ist.
3. Die Zuständigkeit der Wirtschaftsstrafkammer ist im Falle des Abrechnungsbetruges gegenüber Kostenträgern nicht gegeben, wenn sich das vorgeworfene betrügerische Vorgehen darin erschöpft, dass nicht oder nicht so wie behauptet erbrachte Pflegeleistungen in Ansatz gebracht worden sein sollen und es der Auswertung der Jahresabschlüsse nicht bedarf.
Normenkette
StPO §§ 209, 210 Abs. 2; GVG § 74c Abs. 1 S. 1 Nr. 6 Buchst. a)
Verfahrensgang
LG Berlin (Entscheidung vom 22.07.2021; Aktenzeichen (519 KLs) 243 Js 909/14 (1/21)) |
Tenor
1. Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Berlin gegen den Eröffnungsbeschluss des Landgerichts Berlin - Wirtschaftsstrafkammer - vom 22. Juli 2021 wird verworfen.
2. Die Landeskasse Berlin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die den Angeklagten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen.
Gründe
I.
1. Mit ihrer zum Landgericht Berlin - große Strafkammer - erhobenen Anklage vom 14. September 2018 legte die Staatsanwaltschaft Berlin den Angeklagten in dem Zeitraum zwischen April 2011 und Februar 2015 mittäterschaftlich begangenen Betrug in 844 Fällen zur Last. Den Angeklagten wurde vorgeworfen, als Geschäftsführer des Pflegedienstes "M GmbH" übereingekommen zu sein, gegenüber den Kostenträgern Pflegeleistungen als durch den Pflegedienst erbracht abzurechnen, die tatsächlich nicht oder nicht in dem abgerechneten Umfang erbracht worden seien. Hierzu hätten sie mit den Klienten des Pflegedienstes vereinbart, dass diese Geldleistungen sowie zumindest teilweise gegenüber den Kostenträgern nicht abrechenbare Leistungen erhalten und im Gegenzug auf den bei den Leistungsträgern einzureichenden Leistungsnachweisen durch Unterschrift die Vornahme der dort aufgeführten und tatsächlich nicht erbrachten Leistungen bestätigen. Durch die Geltendmachung nicht oder nicht in dem abgerechneten Umfang erbrachter Pflegeleistungen des Pflegedienstes gegenüber den jeweiligen Kostenträgern habe der Pflegedienst zu Unrecht Geldbeträge in Höhe von insgesamt 2.971.799,44 Euro erlangt.
Zur Schadensberechnung führte die Staatsanwaltschaft in der Darstellung des wesentlichen Ergebnisses der Ermittlungen aus, der der Anklage zugrunde gelegte Schaden stelle den mit den angegebenen Beweismitteln nachweisbaren Mindestschaden dar. Für die Monate November 2013 und August 2014, für die die Polizei die Unterlagen ausführlich ausgewertet habe, sei bei den Klienten, bei denen tatsächlich keine Pflegeleistungen erbracht worden seien, jeweils die gesamte Rechnungssumme als Schaden angenommen worden; "Kickback-Zahlungen" seien bei jenen Klienten für diese beiden Monate bei der Schadensberechnung nicht berücksichtigt worden. Für die übrigen Monate seien jeweils die den ausgewerteten Unterlagen zu entnehmenden "Kickback-Zahlungen" des Pflegedienstes an die Klienten als Mindestschaden angenommen worden, da davon auszugehen sei, dass das Ausmaß, in dem nicht erbrachte Leistungen abgerechnet worden seien, den Betrag der "Kickback-Zahlungen" deutlich übersteige, da es für den Pflegedienst keinen Sinn ergäbe, die zu Unrecht vereinnahmten Gelder in vollem Umfang an die Klienten auszukehren, demgegenüber ausreichend konkrete Ausgangspunkte für eine Schätzung des tatsächlich verursachten Schadens derzeit nicht g...