Verfahrensgang

AG Berlin-Tiergarten (Entscheidung vom 07.06.2011; Aktenzeichen (254 Cs) 93 Js 5347/10 (344/10))

 

Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin vom 7. Juni 2011 mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Revision - an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin zurückverwiesen.

 

Gründe

Das Amtsgericht Tiergarten in Berlin hat den Angeklagten wegen Verstoßes gegen das Aufenthaltsgesetz durch unerlaubten Aufenthalt im Bundesgebiet gemäß §§ 4 Abs. 1 Satz 1, 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG zu einer Geldstraße von fünfzig Tagessätzen zu je 5,- EUR verurteilt.

Das Amtsgericht hat u.a. folgende Feststellungen getroffen:

Der Angeklagte, der bosnisch-herzegowinischer Staatsangehöriger ist, verfügte mehrfach über eine Duldung, die jedoch abgelaufen ist. Obwohl der Angeklagte wusste, dass sein Aufenthaltstitel am 17. Juni 2009 erloschen war und er durch Bescheid des Landesamtes für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten Berlin - Ausländerbehörde - vom 27. Mai 2010 mit einer Ausreisefrist bis zum 27. Juni 2010 ausgewiesen worden war, blieb er hier und hielt sich seitdem weiterhin ohne Aufenthaltstitel in der Bundesrepublik Deutschland auf.

Er ist mehrfach strafrechtlich in Erscheinung getreten und am 26. März 2010 vom Amtsgericht Tiergarten in Berlin - 423 Ds 23/10 Jug - wegen unerlaubten Aufenthalts ohne Aufenthaltstitel - zu einer Geldstrafe von dreißig Tagessätzen zu je 5,- EUR verurteilt worden. Diese Strafe hat der Angeklagte bis 3. Januar 2011 verbüßt bzw. einen Teil bezahlt.

Der Angeklagte begehrt mit der auf die Sachrüge gestützten Revision, das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin wegen eines Verstoßes gegen das Doppelbestrafungsverbot aufzuheben und ihn freizusprechen; hilfsweise beantragt er die Vorlage bei dem Europäischen Gerichtshof zur Klärung der Frage, ob § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG mit Artikel 15 ff. der Richtlinie 2008/115/EG vereinbar sei. Die Revision hat mit der Sachrüge (vorläufigen) Erfolg.

1. Allerdings ist eine Verletzung des Doppelverwertungsverbotes nicht gegeben; denn im Gegensatz zu der Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft lässt sich dem Urteil noch entnehmen, dass der Angeklagte am 26. März 2010 wegen unerlaubten Aufenthalts ohne Aufenthaltstitel verurteilt worden ist und die Tatzeit für die vorliegende Verurteilung ab dem 28. Juni 2010 liegt. Es lag auch, anders als in dem von dem BVerfG entschiedenen Fall der Kindesentziehung (vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. Dezember 2006 - 2 BvR 1895/05 -) nach der durch das Urteil vom 26. März 2010 erfolgten Zäsur ein neuer nach außen erkennbarer Tatentschluss des Angeklagten für das der neuen Verurteilung zugrunde liegende Unterlassungsdelikt, vor, als der Angeklagte der Ausreiseverfügung vom 27. Mai 2010 - wieder - nicht nachgekommen ist.

2. Die Feststellungen des Amtsgerichts Tiergarten tragen jedoch den Schuldspruch des illegalen Aufenthalts im Bundesgebiet gemäß § 95 Abs. 1 Ziffer 2 AufenthG in alter und neuer Fassung nicht.

a) Nach § 95 Abs. 1 Ziffer 2 AufenthG in der bis zum 25. November 2011 geltenden Fassung wurde bestraft, wer sich ohne erforderlichen Aufenthaltstitel nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AufenthG im Bundesgebiet aufhält, vollziehbar ausreisepflichtig ist und dessen Abschiebung nicht ausgesetzt war. Mit Wirkung vom 26. November 2011 ist § 95 Abs. 1 Ziffer 2 AufenthG in Umsetzung u.a. der Richtlinie 2008 aus 115 EG (vgl. Gesetzesbegründung BTDs 17/5470 vom 12. April 2011 S. 1) in der Form geändert worden, dass die Strafbarkeit an die weitere Voraussetzung, nämlich die Nichtgewährung oder den Ablauf einer Ausreisefrist (§ 95 Abs. 1 Ziffer 2 b AufenthG) geknüpft wird. Wegen dieser weiteren Voraussetzung handelt es sich um ein milderes Gesetz, das für den Angeklagten Anwendung findet. Dass die Umsetzung der Richtlinie nicht wie vorgeschrieben, von dem bundesdeutschen Gesetzgeber bis zum 24. Dezember 2010, sondern erst mit Wirkung vom 26. November 2011 in deutsches Recht umgesetzt worden ist, hindert nicht ihre unmittelbare Anwendung für den Angeklagten (vgl. EuGH, Urteil vom 28. April 2011 Rdn. 46 - C-61/11 PPU -).

b. Allerdings verbietet die Richtlinie 2008 aus 115 EG (vgl. Gesetzesbegründung BTDs 17/5470 vom 12. April 2011 S. 1) im Gegensatz zu den Ausführungen der Verteidigung nicht die Strafbarkeit des Angeklagten nach § 95 Abs. 1 Ziffer 2 AufenthG (vgl. auch Hanseatisches OLG, Beschluss vom 25. Januar 2012 - 1/12. [bei juris]), wenn sich der Betroffene selbst außerhalb des Rückführungsverfahrens stellt, indem er sich der Aufsicht der Ausländerbehörde durch Untertauchen entzieht und dadurch verhindert, dass die Zuwanderung effektiv kontrolliert und der Prozess der Veränderung der Bevölkerungsstruktur und der Integration der ausländischen Bevölkerung in geordnete Bahnen gelenkt werden kann (vgl. Beschluss OLG Hamburg aaO.; EuGH Urteil vom 28. April 2011 aaO.; EuGH Urteil vom 6. De...

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