Leitsatz (amtlich)
1. Wer die Vorfahrt zu beachten hat, darf nach § 8 Abs. 2 Satz 2 StVO nur weiterfahren, wenn er übersehen kann, dass er den Vorfahrtberechtigten weder gefährdet noch wesentlich behindert. Kann er das nicht übersehen, weil die Straßenstelle unübersichtlich ist, darf er sich nach § 8 Abs. 2 Satz 3 StVO vorsichtig in die Kreuzung hineintasten bis er Übersicht hat.
2. "Hineintasten" bedeutet zentimeterweises Vorrollen bis zum Übersichtspunkt mit der Möglichkeit sofort anzuhalten; das bedeutet ein Vorrollen um jeweils nur wenige Zentimeter, danach ein Anhalten und ein mehrfaches Wiederholen dieses Vorgangs über einen längeren Zeitraum.
3. Der Wartepflichtige genügt dieser Pflicht nicht, wenn er einfach bis zum Übersichtspunkt - ohne Unterbrechung - vorrollt, die Schnittlinie der bevorrechtigten Straße überfährt und damit ganz oder teilweise den Fahrstreifen eines bevorrechtigten Verkehrsteilnehmers sperrt.
4. Die Schätzung eines Zeugen, ein Kraftfahrer sei mit "30 bis 50 km/h" in die Kreuzung gefahren, ist für die Feststellung einer der Verkehrssituation nicht angepassten Geschwindigkeit (§ 3 Abs. 1 StVO) nicht geeignet.
Verfahrensgang
AG Berlin-Mitte (Aktenzeichen 110 C 3404/06, 43 S 28/09) |
Gründe
I. Die Parteien werden bezüglich der Berufung der Beklagten und der Anschlussberufung der Klägerin auf Folgendes hingewiesen:
A. Berufung der Beklagten
Die Berufung der Beklagten hat keine Aussicht auf Erfolg, soweit die Beklagten geltend machen, sie würden für die Unfallfolgen zu weniger als 50 % haften, mit der Folge, dass der Klägerin bereits dem Grunde nach kein Anspruch aus §§ 823 BGB, 7, 17 StVG, 3 PflVG zustehe, während der Anspruch des Widerklägers nach den vorgenannten Vorschriften durchgreife. Zur Kausalität des Unfalls für die von der Klägerin geltend gemachten Schäden dürfte jedoch Beweis zu erheben sein.
Nach § 513 Abs. 1 ZPO kann die Berufung nur darauf gestützt werden, dass die angefochtene Entscheidung auf einer Rechtsverletzung (§ 546 ZPO) beruht oder die nach § 529 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen eine andere Entscheidung rechtfertigen. Dies ist nur in Bezug auf den Umfang des mit der Klage geltend gemachten Schadens der Fall, nicht aber soweit das AG eine Haftung der Beklagten zu 50 % bejaht hat.
1. Zutreffend hat das AG entschieden, dass die Beklagten für die Unfallfolgen jedenfalls nach einer Quote von 50 % haften. Hierbei ist allerdings entgegen den Ausführungen des AG nicht von einem ungeklärten Unfallhergang auszugehen, vielmehr steht nach dem Parteivorbringen der Beklagten und der durchgeführten Beweisaufnahme fest, dass die Beklagte zu 2) einen Vorfahrtsverstoß begangen hat.
a) Der Vorfahrtsverstoß der Beklagten zu 2) ergibt sich bereits aus dem Beklagtenvorbringen. Unstreitig ist, dass die die Friedelstraße befahrende Beklagte zu 2) gem. § 8 Abs. 1 StVO den von rechts aus der Sanderstraße kommenden Fahrzeugen Vorfahrt zu gewähren hatte, da an dieser Kreuzung/Einmündung rechts vor links galt. Zwar tragen die Beklagten vor, die Beklagte zu 2) habe ca. 1 Meter vor dem Einmündungsbereich das Fahrzeug angehalten. Ausweislich der von ihnen mit Schriftsatz vom 17.10.2007 eingereichten Skizze befand sich das Fahrzeug der Beklagten zu 2) tatsächlich jedoch bereits im Kreuzungsbereich. Der Kreuzungsbereich beginnt nicht erst im Bereich der Straße, der für den fließenden Verkehr frei ist, sondern bereits an der Schnittlinie der Bordsteinkanten der sich kreuzenden Straßen, unabhängig davon, ob am Straßenrand parkende Fahrzeuge vorhanden sind oder nicht. Im Bereich einer Kreuzung oder Einmündung erstreckt sich der Vorfahrtbereich nach ständiger Rechtsprechung des Senats auf das eigentliche Kreuzungsviereck sowie auf die - aus Sicht des Vorfahrtberechtigten gesehen - rechte Fahrbahnseite derjenigen Straße, in die er einbiegen will (Senat Urteil vom 5.6.2000 - 12 U 414//99). Hiernach hat sich der Unfall auch nach dem Vorbringen der Beklagten im Kreuzungsbereich ereignet mit der Folge, dass gegen die Beklagte zu 2) als Wartepflichtige der Beweis des ersten Anscheins spricht.
b) Grundsätzlich darf der Vorfahrtberechtigte darauf vertrauen, dass seine Vorfahrt von dem Wartepflichtigen beachtet wird. Dieser Vertrauensgrundsatz führt regelmäßig zur vollen Haftung des Wartepflichtigen. Nach den einschlägigen Grundsätzen des Anscheinsbeweises obliegt dem Wartepflichtigen die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass der Bevorrechtigte sich verkehrswidrig verhalten oder sich infolge überhöhter Geschwindigkeit außer Stande gesetzt hat, rechtzeitig unfallverhütend zu reagieren (vgl. BGH VersR 1964, 639; NJW 1982, 2668; KG DAR 1977, 47, 49; 1984, 85,86; VersR 1994, 1085 f.;).
c) Den gegen die Beklagte zu 2) danach sprechenden Anscheinsbeweis haben die Beklagten nicht entkräftet.
aa) Die Beklagte zu 2) ist in den Kreuzungsbereich eingefahren, ohne den bevorrechtigten Verkehr ausreichend beachtet zu haben.
Nach ihrem Vorbringen ist sie ohne Zwischenstopp an die Sichtlinie herangefahren und hat dort angehalten. Die...