Entscheidungsstichwort (Thema)
Anscheinsbeweis in Fällen der „halben Vorfahrt”
Normenkette
BGB § 847; StVG § 17 Abs. 1; StVO § 8
Verfahrensgang
LG Berlin (Aktenzeichen 17 O 121/99) |
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das am 5.11.1999 verkündete Urteil der Zivilkammer 17 des LG Berlin wird auf ihre Kosten zurückgewiesen. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beschwer der Beklagten übersteigt 60.000 DM nicht.
Gründe
Die Berufung der Beklagten bleibt erfolglos, denn das Urteil des LG ist richtig. Auch das Vorbringen der Beklagten in der Berufungsinstanz gibt keine Veranlassung, die angegriffene Entscheidung zu ändern.
I. Zu Recht hat das LG die Beklagten als Fahrerin, Halterin und Pflichtversicherer nach den §§ 7 Abs. 1, 17 Abs. 1 S. 2, 18 Abs. 1 StVG, 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 8 Abs. 1 StVO, 3 Nr. 1 PflVG zur Zahlung von Schadensersatz wegen des Unfallereignisses am 19.7.1998 gegen 14.50 Uhr auf der Kreuzung G.-Straße/Auf dem Grad in B.-Z. verurteilt, denn der Unfall war durch die Beklagte zu 1) – wie das LG zutreffend formuliert hat – „derart verursacht und verschuldet (…), dass demgegenüber die vom Fahrzeug der Klägerin zu 1) ausgehende Betriebsgefahr nicht ins Gewicht fällt”.
1. Der Unfall stellte für keine der Parteien ein unabwendbares Ereignis i.S.d. § 7 Abs. 2 S. 1 StVG mit der Folge eines Haftungsausschlusses dar. Ob insb. die Beklagte zu 2) jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt beobachtet hat und damit den durchschnittlichen Anforderungen an das Verhalten eines „Idealfahrers” gerecht geworden ist (zum Begriff vgl. Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 36. Aufl. 2001, § 7 StVG, Rz. 30 m.w.N.), lässt das Beklagtenvorbringen nicht erkennen. Die Beklagten haben zunächst vorgetragen, die Beklagte zu 1) habe sich der Kreuzung Gelfertstraße mit einem Tempo von maximal 30 km/h genähert und sich dann durch Schauen nach rechts und links versichert, ob sie die Kreuzung gefahrlos überqueren könne – (Schriftsatz v. 15.6.1999, S. 2 = Bl. 47 d.A.). Dann haben sie mitgeteilt, die Beklagte zu 1) habe vorfahrtsbedingt angehalten und Einsicht in den Kreuzungsbereich genommen (Schriftsatz v. 31.8.1999, S. 2 = Bl. 74 d.A.). Im Schriftsatz v. 10.8.2000 (S. 2 = Bl. 137 d.A.) beschreiben die Beklagten den Vorgang nunmehr so: „Die Beklagte zu 1) ist hier vielmehr vorsichtig, in einer Geschwindigkeit von 15–20 km/h und unter Beachtung der im Verkehr erforderlichen – Sorgfalt an die Kreuzung heran- und eingefahren.” Aus diesen voneinander abweichenden Darstellungen lässt sich nicht entnehmen, dass die Beklagte zu 1) die größtmögliche Sorgfalt beim Einfahren in die Kreuzung hat walten lassen.
2. Damit ist nach den §§ 17 Abs. 1, 18 Abs. 3 StVG, 254 BGB eine Abwägung der Verursachungs- und Verschuldensanteile der Fahrer der beteiligten Fahrzeuge unter Berücksichtigung der von beiden Fahrzeugen ausgehenden Betriebsgefahr geboten. Bei dieser Abwägung sind neben unstreitigen und zugestandenen Tatsachen nur bewiesene Umstände zu berücksichtigen, wobei auch die Regeln des Anscheinsbeweises anzuwenden sind (st. Rspr., vgl etwa KG, Urt. v. 24.9.1998 – 12 U 3282/96).
3. Diese Abwägung führt zu einer Alleinhaftung der Beklagten, denn für einen schuldhaften Vorfahrtsverstoß der Beklagten zu 1) spricht angesichts des Unfallherganges der Beweis des ersten Anscheins, den die Beklagten nicht erschüttert haben.
a) Außer Streit ist zwischen den Parteien, dass das Klägerfahrzeug in die Kreuzung auf einer von rechts kommenden Straße eingefahren ist, so dass es grundsätzlich mangels anderer Verkehrsregelung nach § 8 Abs. 1 S. 1 StVO die Vorfahrt beanspruchen konnte.
Der nach § 8 StVO geschützte Vorfahrtsbereich erstreckt sich auf die gesamte Kreuzungsfläche (sog. „Einmündungsviereck” und die linke Fahrbahnhälfte der untergeordneten Straße, vgl. Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 36. Aufl. 2001, § 8 StVO Rz. 28 m.w.N.). In diesem Bereich darf der Vorfahrtberechtigte grundsätzlich darauf vertrauen, dass sein Vorfahrtsrecht von dem Wartepflichtigen beachtet wird. Dieser Vertrauensgrundsatz gilt auch gegenüber zunächst nicht sichtbaren Verkehrsteilnehmern.
An Kreuzungen, auf denen der Vorfahrtberechtigte seinerseits den von rechts kommenden Fahrzeugen Vorfahrt zu gewähren hat („halbe Vorfahrt”), gilt dieser Vertrauensgrundsatz gleichfalls, sofern der Berechtigte zur Beurteilung seiner eigenen Wartepflicht die nach rechts kreuzende Straße rechtzeitig und weit genug einsehen kann (vgl. BGH v. 21.5.1985 – VI ZR 201/83, NJW 1985, 2757 = MDR 1985, 922; KG, Urt. v. 3.3.1988 – 12 U 4974/87, DAR 1988, 272).
Ein verkehrswidriges Verhalten des Berechtigten beseitigt seine Vorfahrt grundsätzlich nicht; er verliert deshalb seine Vorfahrt auch nicht durch eine überhöhte Geschwindigkeit.
Wer die Vorfahrt zu beachten hat, darf nach § 8 Abs. 2 StVO nur weiterfahren, wenn er übersehen kann, dass er den Vorfahrtberechtigten weder gefährdet noch wesentlich behindert. Kann er dies nicht übersehen, weil die Straßenstelle unübersichtlich ist, so darf er sich nach § 8 Abs...