Leitsatz (amtlich)
1. Bei der elterlichen Sorge handelt es sich um einen einheitlichen Verfahrensgegenstand, der nicht auf zwei getrennte Verfahren - Sorgerechtsregelung bei Getrenntleben der Eltern und bei Kindeswohlgefährdung - aufgeteilt werden darf.
2. Wenn eine Kindeswohlgefährdung im Raum steht, darf das laufende Verfahren nach § 1671 Abs. 1, 2 BGB nicht durch Abweisung des elterlichen Sorgerechtsantrages abgeschlossen und ein neues Verfahren nach § 1666 BGB eingeleitet werden, sondern es ist in einem einheitlichen (Sorgerechts-) Verfahren und mit einer einheitliche Entscheidung darüber zu befinden, welche (Sorgerechts-) Maßnahmen zur Gefahrenabwehr erforderlich und welche Sorgerechtsregelung dem Kindeswohl am besten gerecht wird (§ 1697a Abs. 1 BGB).
3. Im Fall eines Verstoßes gegen diese Grundsätze kann es geboten sein, die entsprechende Entscheidung sowie das zugrundeliegende Verfahren auf Beschwerde aufzuheben und die Sache an die erste Instanz zurückzuverweisen.
Verfahrensgang
AG Berlin-Pankow/Weißensee (Aktenzeichen 20 F 629/22) |
Tenor
Auf die Beschwerde des Vaters werden der am 20. Juli 2022 erlassene Beschluss des Amtsgerichts Pankow - 20 F 629/22 - und das zugrundeliegende Verfahren aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens - an das Amtsgericht zurückverwiesen.
Der Wert für das Beschwerdeverfahren wird auf 4.000 EUR festgesetzt.
Gründe
I. Der Vater wendet sich gegen den Beschluss des Familiengerichts vom 20. Juli 2022, mit dem sein Antrag, die elterliche Sorge für die gemeinsamen, heute zehn bzw. acht Jahre alten Söhne M. und V. auf ihn allein zu übertragen, zurückgewiesen wurde.
Aus der Beziehung von Mutter und Vater, die nicht miteinander verheiratet sind oder waren und die sich im Jahr 2014 getrennt haben, sind die beiden Söhne M. und V. hervorgegangen. Die elterliche Sorge für V. stand bislang der Mutter alleine zu; hinsichtlich M. bestand bislang die gemeinsame Sorge beider Elternteile. Das Verhältnis von Mutter und Vater zueinander ist hochkonflikthaft. Zeitweilig sollen die Kontakte zwischen ihnen aber auch völlig zum Erliegen gekommen sein. Beide Elternteile werden von ihren jeweiligen Familienverbänden unterstützt; der Vater fühlt sich durch die Familie der Mutter bedroht.
Ursprünglich, bis etwa Mai 2021, hatten beide Kinder ihren Lebensmittelpunkt im Haushalt der Mutter. In der Folgezeit lebten die Kinder "unter der Woche" überwiegend beim Vater und an den Wochenenden im Haushalt der Mutter. Etwa im Sommer 2022 hat der in einem Parallelverfahren bestellte Vormund (Amtsgericht Pankow 20 F 4375/22 = Senat, 16 UF 137/22) den Aufenthalt der Kinder, nachdem der Mutter die elterliche Sorge für V. und beiden Elternteilen die Sorge für M. im Wege der einstweiligen Anordnung entzogen worden war, im Haushalt des Vaters bestimmt.
Das vorliegende Verfahren wurde im Januar 2022 vom Vater mit dem Antrag eingeleitet, die elterliche Sorge für beide Kinder auf ihn allein zu übertragen. Zur Begründung führte er an, die Kinder lebten faktisch nur bei ihm in B.-W. in einer kleinen Wohnung, die er und seine eigene Mutter - die Großmutter väterlicherseits - sich teilten. Er benötige die formale Sorgerechtsposition - so seine Darstellung -, um für die Kinder Sozialleistungen wie etwa Unterhaltsvorschuss oder Kindergeld erlangen zu können. Im Mai 2022 kam es zeitweilig zu einem vollständigen Kontaktabbruch zwischen dem Vater und den beiden Söhnen. Der Vater teilte dem Familiengericht dazu unter dem 30. Mai 2022 in einem handschriftlichen Schreiben mit, dass er das Sorgerecht für die beiden Jungen "abgebe" und mit seinen beiden Kindern "in Zukunft nichts mehr zu tun" haben wolle. Während dieser Zeit lebten die Kinder im Haushalt ihrer etwa 70 Jahre alten, erkrankten Großmutter mütterlicherseits. Im Anhörungstermin vom 19. Juli 2022 erklärte der Vater, mittlerweile über eine eigene Wohnung in A. (...) zu verfügen, die nach seinem Dafürhalten groß genug sei, damit er dort mit beiden Kindern und seiner Lebensgefährtin wohnen könne. Die Kinder wolle er jedoch nur, wenn er die elterliche Sorge für sie allein übertragen erhalte; dies sei erforderlich, um für sie Sozialleistungen beantragen zu können. Zudem wolle er die Kinder in A. in einer neuen Schule anmelden. In der Anhörung vom 13. Mai 2022 hat M., durch die Familienrichterin befragt, erklärt, die Schule nicht wechseln zu wollen, weil er ansonsten seine Freunde nicht mehr sehen könne. Weiter hat er erklärt, am liebsten "abwechselnd bei Mama und Papa" wohnen zu wollen. V., getrennt befragt, hat im Hinblick auf einen möglichen Schulwechsel geantwortet, er wolle "lieber auf der Schule bleiben". Wichtige Entscheidungen solle die Mutter für ihn treffen.
Die Mutter hat sich am familiengerichtlichen Verfahren nicht beteiligt und ist zu den beiden, vom Familiengericht angesetzten Anhörungsterminen entgegen der Anordnung, persönlich zu erscheinen, ohne Angabe von Gründen ferngeblieben. Für das Jugendam...