Entscheidungsstichwort (Thema)
Erneute Invollzugsetzung eines Haftbefehls bei neu hervorgetretenen Umständen
Leitsatz (amtlich)
Neu hervorgetretene Umstände im Sinne des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO rechtfertigen die Wiederinvollzugsetzung eines Haftbefehls dann, wenn sie zu einer Straferwartung führen, die von der Prognose des Haftrichters zum Zeitpunkt der Außervollzugsetzung erheblich zum Nachteil des Angeklagten abweicht, und sich nach einer Abwägung aller Umstände des Einzelfalls ergibt, dass sich die Fluchtgefahr durch die Abweichung ganz wesentlich erhöht.
Stand aber dem Angeklagten die Möglichkeit einer für ihn nachteiligen Änderung der Prognose während der Außervollzugsetzung des Haftbefehls stets vor Augen und kam er gleichwohl allen Auflagen beanstandungsfrei nach und hat damit dokumentiert, dass er sich dem Verfahren zur Verfügung halten will, kommt der erneute Vollzug des Haftbefehls nicht in Betracht.
Normenkette
StPO § 116 Abs. 4 Nr. 3; GG Art. 2 Abs. 2 S. 2, Art. 104
Verfahrensgang
LG Berlin (Entscheidung vom 23.09.2021; Aktenzeichen 284 Js 2831/20 - 502 KLs 29/20) |
Tenor
1. Auf die Beschwerde des Angeklagten wird der Vollzug des Haftbefehls des Amtsgerichts Tiergarten vom 10. August 2020 - 353 Gs 3473/20 - in Gestalt des Beschlusses des Landgericht Berlin vom 23. September 2021 unter Aufrechterhaltung der in dem Haftverschonungsbeschluss des Landgerichts Berlin vom 21. Dezember 2020 angeordneten Meldeauflage ausgesetzt; im Übrigen wird die Beschwerde verworfen.
2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Angeklagten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Landeskasse Berlin zur Last.
Gründe
Das Landgericht Berlin hat den seit dem 21. Dezember 2020 vom Vollzug der Untersuchungshaft verschonten Beschwerdeführer am 23. September 2021 wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Mit Urteilsverkündung hat die Kammer ihren Haftverschonungsbeschluss aufgehoben und den Haftbefehl erneut in Vollzug gesetzt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte, der das Urteil fristgerecht mit der Revision angegriffen hat, mit seiner am 30. September 2021 erhobenen Beschwerde, der die Kammer nicht abgeholfen hat.
Dem Angeklagten wird vorgeworfen, seine Lebensgefährtin am 13. Februar 2020 in deren Wohnung zum ungeschützten oralen und vaginalen Geschlechtsverkehr gezwungen und sie dabei unter anderem mit beiden Händen gewürgt zu haben.
Der Verfahrensablauf stellt sich im Einzelnen wie folgt dar:
Am 10. August 2020 erließ das Amtsgericht Tiergarten im vorliegenden Verfahren gegen den Beschwerdeführer einen auf die Haftgründe der Flucht (§ 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO) und der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) gestützten Haftbefehl, weil dieser sich - von der Geschädigten mit dem Tatvorwurf konfrontiert und zum Verlassen der gemeinsamen Wohnung aufgefordert - verborgen halte. Aufgrund dieses Haftbefehls wurde der Angeklagte am 1. November 2020 in Berlin festgenommen. In der Zeit vom 1. November 2020 bis zum 26. November 2020 verbüßte er zunächst eine Ersatzfreiheitsstrafe, ab dem 27. November wurde die Untersuchungshaft vollzogen. Am 9. November 2020 erhob die Staatsanwaltschaft auf der Grundlage eines gegenüber dem Haftbefehl unveränderten Sachverhalts Anklage zum Landgericht Berlin. Im Haftprüfungstermin am 21. Dezember 2020 vor der 2. großen Strafkammer legte der Beschwerdeführer eine amtliche Meldebestätigung vor, wonach er seit dem 1. Mai 2020 in der Sp. Straße in Berlin gemeldet war, woraufhin ihn die Kammer vom weiteren Vollzug der Untersuchungshaft verschonte und ihm aufgab, sich einmal wöchentlich bei der für seinen Wohnsitz zuständigen Polizeidienststelle zu melden und keinen Kontakt zu der Geschädigten aufzunehmen. Mit Beschluss vom 18. Januar 2021 wurde die Anklage ohne Änderungen unter Eröffnung des Hauptverfahrens zur Hauptverhandlung zugelassen.
Zwischen dem 11. März 2021 und dem 23. September 2021 fand an 13 Sitzungstagen, zu denen der Angeklagte - von einer Verspätung abgesehen - jeweils beanstandungsfrei erschienen ist, die Hauptverhandlung statt. Über den Antrag der Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft, den Angeklagten unter Aufrechterhaltung der Haftverhältnisse zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten zu verurteilen, hinausgehend, hat die Kammer den Angeklagten, der die Tat bestritten und dessen Verteidigerin einen Freispruch beantragt hat, am 23. September 2021 wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Ferner hat sie unter Aufhebung des Haftverschonungsbeschlusses vom 21. Dezember 2020 den Haftbefehl vom 10. August 2020 wieder in Vollzug gesetzt und den Beschwerdeführer noch im Saal verhaften lassen.
Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner am 30. September 2021 beim Landgericht eingegangenen Beschwerde, mit der er beantragt, den Haftbefehl aufzuheben, hilfsweise unter geeigneten Auflagen außer Vollzug zu setzen...