Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahren der Anfechtung einer Betriebsratswahl. Zuordnungstarifvertrag nach § 3 BetrVG und Ergänzungstarifvertrag mit „Schiedsstellenklausel” für Streitigkeiten über die Betriebsratsstruktur. Vorlage einer von Amts wegen zu berücksichtigenden Vollmacht innerhalb der Wahlanfechtungsfrist. Gebot der Tarifnormenklarheit. Justiziabilität einer Tarifnorm

 

Leitsatz (amtlich)

1. Ficht ein Arbeitnehmer namens und in Vollmacht seines Arbeitgebers die Wahl des Betriebsrats gemäß § 19 BetrVG an, so ist die materiell-rechtlich wirkende Verfahrensfrist von zwei Wochen gemäß § 19 Abs. 2 S. 2 BetrVG auch dann gewahrt, wenn erst nach ihrem Ablauf eine vom Arbeitgeber ausgestellte oder auf ihn zurückreichende schriftliche Vollmacht bei Gericht eingereicht wird. Für eine teleologische Reduktion der in § 89 Abs. 1 ZPO bestimmten Rechtsfolge der Rückwirkung der nachträglich eingereichten Vollmacht (von Amts wegen zu prüfende Prozesshandlungsvoraussetzung, § 88 Abs. 2 ZPO) auf den Zeitpunkt der Vornahme der Prozesshandlung (hier: Einreichung des Anfechtungsantrags beim Arbeitsgericht) besteht keine so genannte Ausnahmelücke. Die Rückwirkung ist mit dem Normzweck der Anfechtungsfrist vereinbar (anderer Ansicht für die strukturell vergleichbare Vorschrift des § 9 Abs. 4 BPersVG, BVerwG, Beschluss vom 01.12.2003-6 P 11/03-NZA-RR 2004, 389ff, zu II 2 c der Gründe).

2. Ist eine Tarifnorm (hier: inkorporierte – unlesbare – Tarifkarte als Tarifnorm im Rahmen eines Zuordnungstarifvertrags nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 lit.b) nach Ausschöpfung aller Auslegungskriterien nicht justiziabel, so findet sie keine Anwendung (BAG, Urteil vom 26.04.1966-1 AZR 242/65-AP Nr. 117 zu § 1 TVG Auslegung, zu II 6 b der Gründe). Haben die Tarifvertragsparteien für diesen Fall ein die Regelungslücke schließendes Verfahren verabredet, so bestimmt sich die Zuordnung von Betriebsteilen nach diesem tarifautonomen modus procedendi. Andernfalls ist auf die gesetzliche Grundlage des § 4 BetrVG zurückzugreifen.

 

Normenkette

BetrVG §§ 19, 4; ZPO § 89

 

Verfahrensgang

ArbG Stuttgart (Beschluss vom 09.04.2008; Aktenzeichen 34 BV 273/07)

 

Tenor

1. Die Beschwerde der Arbeitgeberin gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Stuttgart vom 09.04.2008 – 34 BV 273/07 – wird zurückgewiesen.

2. Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

A

Die Beteiligten streiten über die Wirksamkeit der im Wahlbezirk 26 der Arbeitgeberin am 30.11. und 01.12.2007 durchgeführten Betriebsratswahl.

Die antragstellende Arbeitgeberin ist ein Einzelhandelsunternehmen, das bundesweit zahlreiche Verkaufsstellen zum Vertrieb von Drogeriewaren betreibt. Nach einem mit der Gewerkschaft HBV gem. § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG am 07.04.1995 abgeschlossenen Tarifvertrag werden für bestimmte Regionen Betriebsräte gebildet. § 3 dieses Zuordnungstarifvertrages (fortan: TV-Zuordnung), im Übrigen wird auf die Seiten 17 bis 19 der Akte des Arbeitsgerichts Bezug genommen und verwiesen, lautet wie folgt:

㤠3

Zuordnung von Betriebsteilen

Die im Geltungsbereich dieses Vertrages liegenden Verkaufsstellen oder Filialen, die als Betriebsteile anzusehen sind, werden abweichend von § 4 BetrVG untereinander zugeordnet in Regionen, die sich im Einzelnen aus der beiliegenden und einen wesentlichen Bestandteil dieses Tarifvertrages bildenden Karte ergeben.

Infolge dieser Zuordnung wählen die Arbeitnehmer der in der jeweiligen Region liegenden Verkaufsstellen oder Filialen jeweils einen Betriebsrat.”

Wegen der in § 3 TV-Zuordnung in Bezug genommenen Karte wird auf Seite 20 der Akte des Arbeitsgerichts Bezug genommen und verwiesen.

Nach den zweitinstanzlichen Feststellungen vereinbarte die Arbeitgeberin mit der Gewerkschaft HBV unter demselben Datum einen Tarifvertrag zur Ergänzung des Tarifvertrages gem. § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG (fortan: TV-Ergänzung). Nr. 7 TV-Ergänzung, im Übrigen wird auf die Seite 184 bis 187 der Akte des Landesarbeitsgerichts Bezug genommen und verwiesen, lautet wie folgt:

„Zur Vermeidung von Rechtsstreitigkeiten aus diesen Verträgen, die die Betriebsratsstruktur betreffen, wird eine Schiedsstelle gebildet, die sich aus je einem Vertreter der Vertragsparteien zusammensetzt.

Diese Schiedsstelle soll versuchen, alle auftretenden Streitigkeiten vor dem Gang zum Gericht zu bereinigen und gütlich beizulegen.”

Der Beteiligte zu 2 ist der am 30.11. und 01.12.2007 im Betriebsratsbezirk 26 (Stuttgart 1) gewählte siebenköpfige Betriebsrat, dessen Vorsitzende die Wahlvorstandsvorsitzende Frau S. ist. Mit Datum vom 18.10.2007 erließ der dreiköpfige, aus den Arbeitnehmerinnen S., T. und M. bestehende Wahlvorstand ein Wahlausschreiben für die Betriebsratswahl am 30.11. und 01.12.2007 im Wahlbezirk 26. Dem Wahlausschreiben, auf das im Übrigen Bezug genommen und verwiesen wird (Bl. 21 bis 25 der Akte des Arbeitsgerichts), war ein „Tourenplan für die persönliche Stimmabgabe”, der genaue Uhrzeiten und Orte beinhaltete, an denen die Stimmabgabe an den beiden Wahltagen erfolgen konnte, als Anlage beigefügt. In der Fo...

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