Entscheidungsstichwort (Thema)

Verschuldensmaßstab des § 233 ZPO bei Fristversäumnis durch den beauftragten Rechtsanwalt. Fristwahrende Einreichung von Schriftsätzen bei vorübergehender Unmöglichkeit der elektronischen Übermittlung. Verschuldenszurechnung gem. § 85 Abs. 2 ZPO

 

Leitsatz (amtlich)

1. Für den nach § 233 ZPO maßgeblichen Verschuldensmaßstab ist zwar nicht von der äußersten und größtmöglichen Sorgfalt auszugehen, sondern von der von einer ordentlichen Rechtsanwältin oder einem ordentlichen Rechtsanwalt zu fordernden üblichen Sorgfalt (BGH, Beschluss vom 16. September 2015 - V ZB 54/15). Zu letztgenannter gehört allerdings die Kenntnis des § 46 g ArbGG und der Möglichkeit, Schriftsätze bei vorübergehender Unmöglichkeit der Übermittlung eines elektronischen Dokuments fristwahrend nach allgemeinen Vorschriften zu übermitteln.

2. Das gilt auch dann, wenn die vorübergehende Unmöglichkeit der elektronischen Übermittlung auf einer erpresserischen Verschlüsselung der Daten auf allen Kanzleirechnern beruht.

 

Leitsatz (redaktionell)

Die Prozesspartei muss sich ein Verschulden des von ihr beauftragten Prozessbevollmächtigten gem. § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Prozessbevollmächtigte die übliche Sorgfalt bei Fristwahrung und -überprüfung hat vermissen lassen.

 

Normenkette

ArbGG § 46g; ZPO § 85 Abs. 2, §§ 233, 234 Abs. 2, § 237

 

Verfahrensgang

ArbG Berlin (Entscheidung vom 03.01.2023; Aktenzeichen 17 Ca 8528/22)

 

Tenor

I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 3. Januar 2023, Aktenzeichen 17 Ca 8528/22, wird unter Zurückweisung des Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand auf ihre Kosten als unzulässig verworfen.

II. Die Revisionsbeschwerde wird nicht zugelassen.

 

Gründe

I.

Das Arbeitsgericht hat mit Urteil vom 3. Januar 2023 die Klage der Klägerin teilweise abgewiesen. Gegen dieses ihr am 12. Januar 2023 zugestellte Urteil hat die Klägerin mit einem beim Landesarbeitsgericht am 8. Februar 2023 eingegangenem Schriftsatz Berufung eingelegt. Auf Antrag der Klägerin wurde die Berufungsbegründungsfrist mit Beschluss vom 7. März 2023 bis zum 27. März 2023 verlängert. Am 28. März 2023 ging beim Landesarbeitsgericht die Berufungsbegründung als Telefax ein mit dem handschriftlichen Vermerk "Vorab per Fax! Bea funktioniert nicht". Nach Hinweis des Gerichts, dass die Berufungsbegründung verspätet sowie nicht in der nach § 46 g Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG) vorgeschriebenen Form eingegangen sei und die Berufung deshalb als unzulässig verworfen werden könnte, beantragte die Klägerin mit am 11. April 2023 im Elektronischen Gerichts- und Verwaltungspostfach des Arbeitsgerichts Berlin eingegangenem Schriftsatz die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

Die Klägerin trägt vor, ihre Prozessbevollmächtigte habe den Berufungsbegründungsschriftsatz am Abend des 27. März 2023 über das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA) versenden wollen, dieses habe jedoch die Übermittlung blockiert und angezeigt, dass der "Versand offen" sei, was die Prozessbevollmächtigte um 19.51 Uhr zur Kenntnis genommen habe. Diese sei zunächst nicht von einer dauerhaften Störung ausgegangen, habe jedoch vorsorglich versucht, den Schriftsatz per Fax zu versenden. Nach längerer Wartezeit habe sich die Prozessbevollmächtigte der Klägerin nach Hause begeben, wo sie über einen Remoterechner verfüge und eine elektronische Übermittlung ebenfalls möglich sei. Die Prozessbevollmächtigte habe von dort aus nochmals versucht, die Übermittlung anzustoßen. Um circa 22.20 Uhr habe sich der Bildschirm ihres Rechners verändert, sämtliche Programme seien als "Blocksatz" mit veränderten Farben zu erkennen gewesen. Ein Zugriff auf Daten sei nicht möglich gewesen. Die Prozessbevollmächtigte sei daraufhin in ihr Büro zurückgekehrt, um von dort aus erneut eine Übermittlung zu versuchen. Im Büro habe sie jedoch keinen Zugriff auf den Rechner ihrer Kanzlei mehr gehabt und sei in diesem Moment panisch geworden. Inzwischen sei es auch zu spät gewesen, um den Schriftsatz beim Gericht einzuwerfen. Nach Ablauf der Frist habe die Prozessbevollmächtigte zudem festgestellt, dass das Fax ebenfalls nicht übermittelt worden sei. Am nächsten Morgen habe die Prozessbevollmächtigte die Nachricht eines Erpressers erhalten, in der mitgeteilt worden sei, dass sämtliche Daten auf ihrem Rechner verschlüsselt seien. Die Prozessbevollmächtigte habe sodann ein Unternehmen mit der Datenrettung beauftragt.

Die Beklagte trägt vor, eine Störung des beA habe am 27. März 2023 nicht vorgelegen. Die Prozessbevollmächtigte der Klägerin habe an diesem Tag auch über ein Online-Portal auf ihr beA zugreifen können. Es sei zudem nicht zu erklären, warum die Prozessbevollmächtigte nach Absendung des Schriftsatzes per Fax nicht das Ergebnis des Faxberichts abgewartet habe, sondern nach Hause gefahren sei und den Schriftsatz nicht zum Nachtbriefkasten des Landesarbeitsgerichts gebracht habe. Es sei auch nicht nachvollziehbar, warum sie dies...

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