Entscheidungsstichwort (Thema)
0,8 Verfahrensgebühr für bloße Abwicklungstätigkeiten. Keine 1,3 Verfahrensgebühr bei fehlenden prozessualen Handlungen. Festsetzung von Gebühren nur für Tätigkeiten ab Bewilligung der Prozesskostenhilfe
Leitsatz (amtlich)
1. Sind ab dem Zeitpunkt der Bewilligung von Prozesskostenhilfe weder eine Klage oder ein Schriftsatz, der Sachanträge, Sachvortrag, die Zurücknahme der Klage oder die Zurücknahme eines Antrags enthällt, eingereicht und ist auch ein gerichtlicher Termin nicht wahrgenommen worden, ist eine 1,3 Verfahrensgebühr nicht verdient, wie aus Nr. 3101 Nr. 1 VV RVG iVm Nr. 3100 VV RVG folgt (vgl. BGH 10. Mai 2010 - II ZB 14/09, Rn. 23).
2. In Betracht kommt in dieser Situation aber eine 0,8 Verfahrensgebühr nach Nr. 3101 VV RVG. Zum Verfahren gehören nach § 19 Abs. 1 Satz 1 RVG grundsätzlich auch alle Abwicklungstätigkeiten und insoweit insbesondere die Empfangnahme von Entscheidungen und ihre Mitteilung an den Auftraggeber (§ 19 Abs. 1 Satz 2 Nr. 9 RVG); sie werden mit der Verfahrensgebühr ggf. selbständig entgolten (vgl. BVerwG 4. September 2009 - 9 KSt 10/09, Rn. 6; LG Berlin 15. Februar 1984 - 82 T 380/83, JurBüro 1984, 1034; Gerold/Schmidt/Müller-Rabe, 24. Aufl. 2019, RVG VV 3101 Rn. 62, 67).
3. § 15 Abs. 2 Satz 1 RVG steht in diesem Fall der Berücksichtigung der entstandenen Verfahrensgebühr nicht entgegen. Er hindert nur die kumulative Forderung der Gesamtgebühr und der Einzelgebühren (vgl. BGH 24. September 2014 - IV ZR 422/13, Rn. 12).
4. Dem Ergebnis stehen auch nicht die Gesichtspunkte entgegen, die für eine Begrenzung der Rückwirkung der PKH-Bewilligung sprechen.
Ist Prozesskostenhilfe - wie hier - uneingeschränkt ab einem bestimmten Zeitpunkt bewilligt worden, sind alle folgenden, Gebühren auslösende und zum Verfahren zählende Tätigkeiten auch zu vergüten (Abgrenzung zu LAG Berlin-Brandenburg 17. April 2019 - 26 Ta (Kost) 6080/18, Rn. 7).
Normenkette
RVG §§ 19, 48, 56, 53; ZPO § 569 Abs. 2
Verfahrensgang
ArbG Berlin (Entscheidung vom 09.06.2020; Aktenzeichen 46 AR 99004/20 - 27 Ca 4200/18) |
Tenor
1. Auf die Beschwerde der Prozessbevollmächtigten der Klägerin wird der Beschluss des Arbeitsgerichts Berlin vom 9. Juni 2020 - 46 AR 99004/20 - 27 Ca 4200/18 - teilweise abgeändert.
2. Auf die Erinnerung wird der Vergütungsfestsetzungsbeschluss des Arbeitsgerichts Berlin (Rechtspflegerin) vom 14. Februar 2020 teilweise abgeändert. Die den Prozessbevollmächtigten der Klägerin aus der Staatskasse zu gewährende Vergütung wird auf 316,06 Euro festgesetzt.
3. Im Übrigen werden Erinnerung und Beschwerde zurückgewiesen.
Gründe
I.
Die Beschwerdeführer wenden sich mit der Beschwerde gegen die Zurückweisung ihres Antrags auf Festsetzung einer 1,3 Verfahrensgebühr nebst Auslagen und Zinsen.
Die Beschwerdeführer haben am 16. März 2018 beim Arbeitsgericht Berlin für die Klägerin eine Kündigungsschutzklage eingereicht. Der Schriftsatz enthielt einen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe. Eine Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse werde nachgereicht bzw. befinde "sich aktualisiert in der Verfahrensakte 44 Ca 4386/16". Zu Beginn der Sitzung vom 10. Oktober 2019, an der ein Prozessbevollmächtigter der Klägerin nicht teilnahm, überreichte die Klägerin eine Erklärung über ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse. Bis zu diesem Zeitpunkt war über den Antrag noch nicht entschieden. Im Anschluss daran erfolgte die Aufnahme der Anträge. Am Schluss der Sitzung verkündete die Vorsitzende ein Urteil, mit dem dem Kündigungsschutzantrag der Klägerin stattgegeben wurde. Mit Beschluss vom 18. Oktober 2019 bewilligte das Arbeitsgericht der Klägerin Prozesskostenhilfe für die erste Instanz mit Wirkung vom 10. Oktober 2019. Mit Schriftsatz vom 24. Oktober 2019 haben die Klägervertreter ihre Kostenrechnung eingereicht, mit der sie eine Verfahrensgebühr, eine Terminsgebühr sowie eine Auslagenpauschale und einen Umsatzsteuerbetrag in Ansatz gebracht haben. Mit Schriftsatz vom 22. November 2019 haben sie den Antrag in Bezug auf die Terminsgebühr zurückgenommen. Zugleich haben sie um Erteilung eines Rechtskraftattestes gebeten. Das Urteil des Arbeitsgerichts vom 10. Oktober 2019 haben sie entgegengenommen und an ihre Mandantin weitergereicht.
Mit Beschluss vom 14. Februar 2020 hat das Arbeitsgericht (Rechtspflegerin) den Antrag mit der Begründung abgelehnt, die Klägervertreter hätten nach dem 10. Oktober 2019 keine Gebühren auslösende Tätigkeiten ausgeübt. Die Klägervertreter haben gegen den ihnen am 24. Februar 2019 zugestellten Beschluss mit einem bei dem Arbeitsgericht am 10. März 2019 eingegangenen Schriftsatz Erinnerung eingelegt. Sie berufen sich auf § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 RVG. Bei der Empfangnahme einer Entscheidung, deren Mitteilung an die Auftraggeberin und der Einholung eines Rechtskraftzeugnisses handele es sich um Tätigkeiten im Rechtszug, die nach Bewilligung der Prozesskostenhilfe durchgeführt worden und damit vergütungspflichtig seien.
Das Arbeitsgeri...