Entscheidungsstichwort (Thema)
Bislang fehlende zeitliche Grenze zur Bestimmung der vorübergehenden Entleihung. Fehlender nationaler Anspruch auf Abschluss eines Arbeitsvertrages bei nicht nur vorübergehender Entleihung
Leitsatz (amtlich)
Dem Europäischen Gerichtshof werden folgende Fragen zur Auslegung der Richtlinie 2008/104/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19.11.2008 über Leiharbeit (Leiharbeitsrichtlinie) vorgelegt:
1. Ist die Überlassung eines Leiharbeitnehmers an ein entleihendes Unternehmen schon dann nicht mehr als "vorübergehend" im Sinne des Artikel 1 der Leiharbeitsrichtlinie anzusehen, wenn die Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz erfolgt, der dauerhaft vorhanden ist und der nicht vertretungsweise besetzt wird?
2. Ist die Überlassung eines Leiharbeitnehmers unterhalb einer Zeitspanne von 55 Monaten als nicht mehr "vorübergehend" im Sinne des Artikel 1 der Leiharbeitsrichtlinie anzusehen?
3. Falls die Fragen zu 1. und/oder 2. bejaht werden, ergeben sich folgende Zusatzfragen:
3.1. Besteht für den Leiharbeitnehmer ein Anspruch auf Begründung eines Arbeitsverhältnisses mit dem entleihenden Unternehmen, auch wenn das nationale Recht eine solche Sanktion vor dem 01.04.2017 nicht vorsieht?
3.2. Verstößt eine nationale Regelung wie § 19 Absatz 2 AÜG dann gegen Artikel 1 der Leiharbeitsrichtlinie, wenn sie erstmals ab dem 01.04.2017 eine individuelle Überlassungshöchstdauer von 18 Monaten vorschreibt, vorangegangene Zeiten der Überlassung aber ausdrücklich unberücksichtigt lässt, wenn bei Berücksichtigung der vorangegangenen Zeiten die Überlassung als nicht mehr vorübergehend zu qualifizieren wäre?
3.3. Kann die Ausdehnung der individuellen Überlassungshöchstdauer den Tarifvertragsparteien überlassen werden? Falls dies bejaht wird: Gilt dies auch für Tarifvertragsparteien, die nicht für das Arbeitsverhältnis des betroffenen Leiharbeitnehmers, sondern für die Branche des entleihenden Unternehmens zuständig sind?
Normenkette
RL 2008/104/EG Art. 1-2, 6; AÜG § 1 Abs. 1b, § 19 Abs. 2; ZPO § 148
Verfahrensgang
ArbG Berlin (Entscheidung vom 08.10.2019; Aktenzeichen 8 Ca 7829/19) |
Tenor
I. Der Rechtsstreit wird bis zu einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs ausgesetzt.
II. Dem Europäischen Gerichtshof werden folgende Fragen zur Auslegung der Richtlinie 2008/104/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19.11.2008 über Leiharbeit (Leiharbeitsrichtlinie) vorgelegt:
1. Ist die Überlassung eines Leiharbeitnehmers an ein entleihendes Unternehmen schon dann nicht mehr als "vorübergehend" im Sinne des Artikel 1 der Leiharbeitsrichtlinie anzusehen, wenn die Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz erfolgt, der dauerhaft vorhanden ist und der nicht vertretungsweise besetzt wird?
2. Ist die Überlassung eines Leiharbeitnehmers unterhalb einer Zeitspanne von 55 Monaten als nicht mehr "vorübergehend" im Sinne des Artikel 1 der Leiharbeitsrichtlinie anzusehen?
3. Falls die Fragen zu 1. und/oder 2. bejaht werden, ergeben sich folgende Zusatzfragen:
3.1. Besteht für den Leiharbeitnehmer ein Anspruch auf Begründung eines Arbeitsverhältnisses mit dem entleihenden Unternehmen, auch wenn das nationale Recht eine solche Sanktion vor dem 01.04.2017 nicht vorsieht?
3.2. Verstößt eine nationale Regelung wie § 19 Absatz 2 AÜG dann gegen Artikel 1 der Leiharbeitsrichtlinie, wenn sie erstmals ab dem 01.04.2017 eine individuelle Überlassungshöchstdauer von 18 Monaten vorschreibt, vorangegangene Zeiten der Überlassung aber ausdrücklich unberücksichtigt lässt, wenn bei Berücksichtigung der vorangegangenen Zeiten die Überlassung als nicht mehr vorübergehend zu qualifizieren wäre?
3.3. Kann die Ausdehnung der individuellen Überlassungshöchstdauer den Tarifvertragsparteien überlassen werden? Falls dies bejaht wird: Gilt dies auch für Tarifvertragsparteien, die nicht für das Arbeitsverhältnis des betroffenen Leiharbeitnehmers, sondern für die Branche des entleihenden Unternehmens zuständig sind?
Gründe
I. Sachverhalt und nationale rechtliche Grundlagen
1. Der Kläger war seit dem 01.09.2014 bei dem Leiharbeitsunternehmen I. K. H. GmbH beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis war anfangs zweimal auf jeweils ein Jahr befristet worden und wurde danach unbefristet durchgeführt. In einer Zusatzvereinbarung zum Arbeitsvertrag war vereinbart worden, dass der Kläger die Arbeitsleistung bei der D. AG, der hiesigen Beklagten, in deren Betrieb in Berlin als Metallarbeiter zu erbringen hat. Die D. AG ist ein Großunternehmen der Automobilindustrie. Die dort auszuführenden Arbeitsschritte in der Motorenfertigung waren in der Zusatzvereinbarung genau beschrieben worden. Nach dem Arbeitsvertrag des Klägers kommen auf das Arbeitsverhältnis bestimmte, für die Leiharbeitsbranche geltende Tarifverträge zur Anwendung.
2. Der Kläger war vom 01.09.2014 bis 31.05.2019 ausschließlich der Beklagten als entleihendes Unternehmen überlassen worden. Er arbeitete ständig in der Motorenfertigung. Ein Vertretungsfall lag nicht vor. Unterbrochen war diese Zeit nur für 2 Monate...