Entscheidungsstichwort (Thema)
Abgrenzung von Betrieb und Betriebsteil. Schriftliche Stimmabgabe für Betriebsteile und Kleinstbetriebe. Ermessensentscheidung des Wahlvorstands bezüglich der Stimmabgabe bei räumlich weit entfernten Betriebsteilen. Herausgabe von Informationen an den Wahlvorstand auch bei voraussichtlicher Anfechtbarkeit der Wahl. Herausgabe von Privatadressen und dienstlichen E-Mail-Adressen aller Belegschaftsmitglieder an den Wahlvorstand. Datenschutz bei rechtmäßig verarbeiteten personenbezogenen Daten
Leitsatz (amtlich)
1. Für Betriebsteile und Kleinstbetriebe, die räumlich weit vom Hauptbetrieb entfernt sind, kann der Wahlvorstand gemäß § 24 Absatz 3 Satz 1 WO die schriftliche Stimmabgabe beschließen.
2. Der Begriff der räumlich weiten Entfernung im Sinne des § 24 Absatz 3 WO ist danach entsprechend dem Sinn und Zweck der Vorschrift, den Belegschaftsmitgliedern die Beteiligung an der Betriebsratswahl zu erleichtern, in einem weiteren Sinne zu verstehen. Ob in derartigen Fällen entweder in allen Betriebsteilen oder Kleinstbetrieben eigene Wahllokale eingerichtet werden oder für die beschäftigten Arbeitnehmer die schriftliche Stimmabgabe beschlossen wird, hat der Wahlvorstand nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden (vgl. LAG Berlin-Brandenburg 7. Mai 2021 - 5 TaBV 1160/19, Rn. 57 mwN).
3. Der Arbeitgeber ist nur dann nicht zur Erteilung der damit verbundenen erforderlichen Informationen an den Wahlvorstand verpflichtet, wenn er mit der gleichen Argumentation, mit der er die geforderten Informationen verweigert, auch eine einstweilige Verfügung auf Untersagung bzw. Abbruch der beabsichtigten Betriebsratswahl erreichen könnte. Dies ist nur dann der Fall, wenn eine nichtige Betriebsratswahl betrieben wird. Die voraussichtliche Anfechtbarkeit der Wahl genügt dagegen nicht. Hierfür reicht regelmäßig weder eine Verkennung des Betriebsbegriffs noch eine solche der Anwendungsvoraussetzungen von § 24 WO (vgl. Hessisches LAG 10. August 2020 - 16 TaBVGa 75/20, Rn. 17).
4. Die Verpflichtung zur Vorlage der durch das Arbeitsgericht im Tenor ausgewiesenen Unterlagen besteht aber auch bezüglich der Belegschaftsmitglieder im Hauptbetrieb und der in den Betriebsstätten tätigen Personen, in denen keine Briefwahl möglich bzw. vorgesehen ist. Erforderlich ist, dass dem Wahlvorstand sämtliche Daten vorab vorliegen, damit er im konkreten Einzelfall seine als Gremium getroffene Entscheidung über die Bewilligung des jeweiligen Antrags auf Briefwahl durch Übersendung der Briefwahlunterlagen umsetzen kann (Anschluss an Hessisches LAG 10. August 2020 - 16 TaBVGa 75/20, Rn. 16).
5. Der Übergabe der persönlichen Daten stehen datenschutzrechtliche Bedenken nicht entgegen (Fitting, BetrVG, 31. Aufl. 2022, § 24 WO 2001, Rn. 14). Die Daten der Belegschaftsmitglieder (Adressen) werden vom Arbeitgeber rechtmäßig verarbeitet. Der Wahlvorstand benötigt diese zur Durchführung seiner ihm nach § 24 WO obliegenden gesetzlichen Verpflichtungen. Er unterliegt insoweit der Schweigepflicht. Darauf, dass sich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht vollumfänglich vorhersehen lässt, ob der Wahlvorstand tatsächlich alle privaten Anschriften der Belegschaftsmitglieder benötigt, kommt es nicht entscheidend an.
6. Die Datenübermittlung durch den Arbeitgeber und die anschließende Datenverarbeitung durch den Wahlvorstand sind zur Wahrnehmung des den wahlberechtigten Beschäftigten zustehenden Rechts zur Teilnahme an den Betriebsratswahlen erforderlich und gem. § 26 Abs. 1 BDSG bzw. - soweit es um sensible Daten nach Art. 9 Abs. 1 DSGVO, etwa die Angabe der Arbeitsunfähigkeit, geht - gem. § 26 Abs. 3 Satz 1 BDSG ohne Einwilligung der betreffenden Beschäftigten datenschutzrechtlich zulässig (BR-Drs 666/21, 20, 24, 26; Boemke/Haase NZA 2021, 1513, 1519; Richardi BetrVG/Forst, 17. Aufl. 2022, WO § 24 Rn. 10; Löwisch/Kaiser/Klumpp-Wiebauer, BetrVG, Anhang 1 Erste Verordnung zur Durchführung des Betriebsverfassungsgesetzes (Wahlordnung - WO), Rn. 7; ebenso Klose, NZA 2021, NZA 2021, 1301, 1302).
Leitsatz (redaktionell)
Für die Abgrenzung von Betrieb und Betriebsteil ist der Grad der Verselbstständigung entscheidend, der im Umfang der Leitungsmacht zum Ausdruck kommt. Erstreckt sich die in der organisatorischen Einheit ausgeübte Leitungsmacht auf alle wesentlichen Funktionen des Arbeitgebers in personellen und sozialen Angelegenheiten, handelt es sich um einen eigenständigen Betrieb im Sinne von § 1 Absatz 1 BetrVG. Für einen Betriebsteil genügt ein Mindestmaß an organisatorischer Selbständigkeit gegenüber dem Hauptbetrieb.
Orientierungssatz
Orientierungssatz:
Verpflichtung des Arbeitgebers zur Herausgabe von privaten Anschriften und dienstlichen E-Mail-Adressen der Belegschaftsmitglieder an den Wahlvorstand
Normenkette
WahlO § 24; DSGVO § 26; BetrVG §§ 4, 1; BDSG § 26 Abs. 1; DSGVO Art. 9 Abs. 1
Verfahrensgang
ArbG Cottbus (Entscheidung vom 13.04.2023; Aktenzeichen 3 BVGa 5/23) |
Tenor
Die Beschwerde der Arbeitgeberin gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Cott...