Entscheidungsstichwort (Thema)

Befristungskontrollklage im Sinne des § 1 Abs. 1 S. 5 WissZeitVG. Unwirksamkeit der Befristung für wissenschaftliches Personal nach WissZeitVG. Unwirksamkeit der Befristung bei Überschreitung der Höchstbefristungsdauer nach § 2 Abs. 1 WissZeitVG. Anrechnung von Beschäftigungszeiten auf Befristungsdauer

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Die im Arbeitsvertrag vereinbarte Befristung ist unwirksam, da sie sich weder auf den Verlängerungstatbestand des § 2 Abs. 1 S. 1 WissZeitVG in der bis zum 29.02.2020 geltenden Fassung noch auf die Höchstbefristungsdauer nach § 2 WissZeitVG stützen kann.

2. Das Arbeitsverhältnis hat sich nicht aufgrund der Vertretungsprofessur automatisch verlängert.

3. Auf die Höchstbefristungsdauer nach § 2 Abs. 1 WissZeitVG sind alle befristeten Arbeitsverhältnisse mit mehr als einem Viertel der regelmäßigen Arbeitszeit der an Hochschulen verlangten Umfang anzurechnen. Bei der Anrechnung sind volle Beschäftigungsjahre abweichend von § 191 BGB als solche und unterjährige Teile eines Arbeitsverhältnisses nach Tagen zu berücksichtigen.

 

Normenkette

WissZeitVG § 2 Abs. 1, 5, § 1 Abs. 1 S. 5, § 2 Abs. 2; TzBfG § 16 S. 1, § 17 S. 1; ZPO § 91 Abs. 1

 

Verfahrensgang

ArbG Potsdam (Entscheidung vom 15.12.2020; Aktenzeichen 4 Ca 1137/19)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 21.06.2023; Aktenzeichen 7 AZR 88/22)

 

Tenor

I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Potsdam vom 15. Dezember 2020 - 4 Ca 1137/19 - abgeändert:

Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht aufgrund der Befristung des Arbeitsvertrages vom 22. Juni 2018 mit Ablauf des 16. Juli 2019 geendet hat.

II. Die Kosten des Rechtsstreits hat das beklagte Land zu tragen.

III. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob ihr Arbeitsverhältnis aufgrund Befristung mit Ablauf des 16. Juli 2019 geendet hat.

Die Klägerin schloss am 1. Oktober 1998 ihr Studium der Chemie ab. Am 16. Januar 2006 wurde sie promoviert und am 31. Januar 2018 habilitiert. Am 27. April 2018 wurde ihr die Lehrbefugnis für "Physikalische Biochemie" erteilt.

Vom 1. Mai 1999 bis zum 30. Juni 2000 war die Klägerin als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin beim Forschungsverbund Berlin e.V. (eingetragener Verein) beschäftigt. Die Promotion, an der sie während des Beschäftigungsverhältnisses arbeitete, verfolgte sie nach dessen Beendigung nicht weiter. Ab dem 15. Juli 2000 arbeitete die Klägerin an ihrer am 16. Januar 2006 abgeschlossenen Promotion zunächst im Rahmen eines vom 17. Juli 2000 bis zum 16. Juli 2002 dauernden Stipendiums der Charité. Seit dem 15. Juli 2002 war sie mit zwei Unterbrechungen vom 1. August bis zum 31. Dezember 2003 und vom 16. März bis zum 31. August 2005 aufgrund mehrerer befristeter Arbeitsverträge als wissenschaftliche bzw. akademische Mitarbeiterin bei dem beklagten Land beschäftigt und an der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität P. in der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. S. tätig. Seit 2008 sind arbeitsvertraglich die für das beklagte Land geltenden Bestimmungen des Tarifvertrages für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L) in Bezug genommen. Ebenfalls seit 2008 war die Klägerin durchgehend in Vollzeit beschäftigt und wurde nach Entgeltgruppe 13 TV-L vergütet.

Zwischen den Parteien wurden unter anderem folgende befristete Arbeitsverträge auf der Grundlage des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (WissZeitVG) unter Angabe folgenden Befristungsgrundes abgeschlossen:

Datum

Zeitraum

Befristungsgrund

30.11.2009

01.01.2010 - 31.12.2011

§ 2 Abs. 1 WissZeitVG

21.06.2011

01.01.2012 - 31.12.2014

§ 2 Abs. 1 Satz 3 WissZeitVG

24.07.2013

01.01.2015 - 31.12.2016

01.01.2015 - 15.01.2016: § 2 Absatz 1 Satz 3 WissZeitVG

16.01.2016 - 31.12.2016: § 2 Absatz 5 Satz 1 Nr. 5 WissZeitVG

27.07.2016

01.01.2017 - 02.07.2018

§ 2 Abs. 5 Nr. 2 WissZeitVG

22.06.2018

03.07.2018 - 16.07.2019

§ 2 Abs. 5 Nr. 2 WissZeitVG

Wegen der Einzelheiten und des weiteren Inhalts der aufgeführten Arbeitsverträge wird auf deren Ablichtungen (Blatt 135 ff. (fortfolgende) und 91 ff. der Akten) verwiesen.

In den Jahren 2003 und 2005 gebar die Klägerin jeweils ein Kind, das sie auch betreute. Vom 23. April bis zum 31. Juli 2003 und vom 15. März bis zum 24. Mai 2005 befand sich die Klägerin im Mutterschutz. Ob und wie lange die Klägerin im Anschluss an den Mutterschutz jeweils nicht an ihrer Promotion arbeitete, ist zwischen den Parteien streitig.

Vom 13. Dezember 2007 bis zum 30. September 2010 und vom 1. Oktober 2010 bis zum 30. September 2012 nahm die Klägerin an der Fakultät das Amt der stellvertretenden dezentralen Gleichstellungsbeauftragten wahr. Nach ihrer Wiederwahl im Sommer 2010 teilte sie der Fakultät mit Schreiben vom 8. September 201020 (Blatt 333 der Akten) mit, sie würde zur Kompensation ihres zeitlichen Aufwandes als stellvertretende Gleichstellungsbeauftragte gerne eine schriftliche Vereinbarung treffen. Als befristet beschäftigte wissenschaftliche Mitarbeiterin sei eine Verlä...

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