Entscheidungsstichwort (Thema)
Unwirksame Kündigung eines als Kraftfahrer und Übersetzer beschäftigten Mitarbeiters in ausländischer Botschaft. Deutsche Gerichtsbarkeit bei nichthoheitlicher Tätigkeit. Anwendung des Kündigungsschutzgesetzes bei Ausschluss der Weiterbeschäftigung nach ausländischem Recht
Leitsatz (amtlich)
1. Wird ein Fahrer, der bei einer ausländischen Botschaft beschäftigt ist, als solcher bei Besuchen von offiziellen Delegationen des ausländischen Staates eingesetzt und muss er dabei auch die Funktion eines Dolmetschers übernehmen, weil die Delegationen über keinen eigenen Dolmetscher verfügen, handelt es sich nicht ohne weiteres um eine hoheitliche Tätigkeit des ausländischen Staates, die nach § 20 Abs. 2 GVG die deutsche Gerichtsbarkeit ausschließen könnte. Die Verbindung der Tätigkeiten als Fahrer und Dolmetscher muss vielmehr in nennenswertem Umfang zur Anbahnung und Pflege von Gesprächskontakten beitragen, die der Pflege politischer, kultureller, wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Beziehungen dienen, damit die Tätigkeit als insgesamt hoheitlich angesehen werden kann (vgl. BAG, Urteil vom 01.07.2010 - 2 AZR 270/09 - AP Nr. 5 zu Art. 25 GG).
2. Die Botschaft eines ausländischen Staates in der Bundesrepublik Deutschland ist als "Niederlassung" im Sinne des Art. 18 Abs. 2 EuGVVO anzusehen, wenn der dort beschäftigte Arbeitnehmer nicht hoheitlich tätig wird (EuGH, Urteil vom 19.07.2012 - C-154/11 - NZA 2012, 935). Für eine arbeitsgerichtliche Streitigkeit dieses Arbeitnehmers sind die deutschen Gerichte international zuständig.
3. Kann der in der Bundesrepublik Deutschland beschäftigte Arbeitnehmer im Falle einer unwirksamen Kündigung nach dem gewählten ausländischen Recht die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht erreichen, sondern muss er sich auf eine finanzielle Abfindung für den Verlust des Arbeitsplatzes verweisen lassen, findet das Kündigungsschutzgesetz Anwendung, sofern der Arbeitsvertrag nicht engere Verbindungen zu einem anderen Staat aufweist (Art. 30 EGBGB, Art. 8 Rom-I-VO). Für eine derartige engere Verbindung genügt es nicht, dass der Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst des ausländischen Staates tätig war.
4. Sieht das gewählte ausländische Recht im Falle der unwirksamen Kündigung keinen Anspruch auf Zahlung einer Annahmeverzugsvergütung vor, finden §§ 615, 295, 296 BGB nach Maßgabe des Art. 30 Abs. 1 EGBGB (Art. 8 Abs. 1 Rom-I-VO) Anwendung.
Normenkette
GVG § 20; EuGVVO Art. 18 ff.; EGBGB Art. 27 ff.; GG Art. 25; GVG § 20 Abs. 2; EuGVVO Art. 19 Nr. 1, Art. 18 Abs. 2; EGBGB Art. 27 Abs. 1 S. 1, Art. 30 Abs. 1, 2 Nr. 1; KSchG § 1 Abs. 2 S. 1 Alt. 1, Abs. 2 S. 1 Alt. 2, Abs. 1 S. 4; BGB § 615 S. 1, §§ 295-296; EG-VO 593/2008 Art. 8 Fassung: 2008-06-17
Verfahrensgang
ArbG Berlin (Entscheidung vom 02.07.2008; Aktenzeichen 86 Ca 13143/07) |
Nachgehend
Tenor
I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 02.07.2008 - 86 Ca 13143/07 - teilweise geändert:
1. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung vom 29.08.2007 nicht aufgelöst worden ist.
2. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 25.459,56 EUR brutto abzüglich 10.781,40 EUR netto sowie 78.197,22 EUR brutto zu zahlen.
II. Die Berufung wird hinsichtlich der Klage auf vorläufige Beschäftigung und der Zinsklage zurückgewiesen.
III. Die erstinstanzlichen Kosten werden gegeneinander aufgehoben.
Die Gerichtskosten des Berufungsverfahrens haben der Kläger zu 15 v.H. und die Beklagte zu 85 v.H. zu tragen.
Die im ersten Rechtsgang des Berufungsverfahrens entstandenen außergerichtlichen Kosten haben der Kläger zu 43 v.H. und die Beklagte zu 57 v.H. zu tragen.
Die im zweiten Rechtsgang des Berufungsverfahrens entstandenen außergerichtlichen Kosten haben der Kläger zu 13 v.H. und die Beklagte zu 87 v.H. zu tragen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens haben der Kläger zu 23 v.H. und die Beklagte zu 77 v.H. zu tragen.
IV. Die Revision der Beklagten wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer von der Beklagten ausgesprochenen ordentlichen Kündigung, über Annahmeverzugslohn, Zinsansprüche und die Verpflichtung der Beklagten zur vorläufigen Weiterbeschäftigung. Dabei ist vor allem umstritten, ob die deutsche Gerichtsbarkeit sowie die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte gegeben sind und ob auf das Arbeitsverhältnis deutsches oder algerisches Recht zur Anwendung kommt.
Der Kläger ist algerischer Herkunft. Er besitzt die algerische und die deutsche Staatsangehörigkeit, beherrscht neben der deutschen die arabische und die französische Sprache und wohnt in Berlin. Die Beklagte ist die Demokratische Volksrepublik Algerien. Sie beschäftigte den Kläger auf der Grundlage eines in französischer Sprache verfassten Arbeitsvertrags seit dem 01.09.2002 gegen eine monatliche Bruttovergütung von zuletzt 1.818,54 EUR als Kraftfahrer in ihrer Berliner Botschaft. Der Vertrag enthält u.a. folgende Bestimmungen:
"II/ ...