Entscheidungsstichwort (Thema)
Indizwirkung der Kurzarbeit im Gegensatz zur dauerhaften Betriebsschließung. Unternehmerisches Ermessen bei Personalplanung. Keine Nichtigkeit der Kündigung durch Verstoß gegen Massenentlassungsrichtlinie. Abbau von Flugstationen nach Durchführung des Konsultationsverfahrens
Leitsatz (amtlich)
1. Wird Kurzarbeit geleistet, so spricht dies dafür, dass die Betriebsparteien nur von einem vorübergehenden Arbeitsmangel und nicht von einem dauerhaft gesunkenen Beschäftigungsbedarf ausgehen. Dieses aus der Kurzarbeit folgende Indiz kann der Arbeitgeber durch konkreten Sachvortrag entkräften.
2. Die bloße Möglichkeit, dass der Arbeitsüberhang vielleicht wieder entfallen könnte, steht der Prognose des dauerhaften Wegfalls des Arbeitsplatzes nicht entgegen. Nur wenn zum Zeitpunkt der Kündigung bereits konkret absehbar ist, dass zwar im Zeitpunkt des Ablaufs der Kündigungsfrist ein Arbeitskräfteüberhang vorliegen wird, dieser zu einem späteren Zeitpunkt aber wieder abgebaut sein wird, so dass wieder Beschäftigungsmöglichkeiten entstehen, kommt es für die Wirksamkeit einer Kündigung auch darauf an, ob dem Arbeitgeber die Überbrückung des Zeitraums zumutbar ist.
3. Eine Kongruenz zwischen dem Umfang des Arbeitsausfalls und der Zahl der Entlassenen ist nicht erforderlich, es liegt vielmehr im unternehmerischen Ermessen des Arbeitgebers, ob er im Verhältnis zu dem fehlenden Arbeitskräftebedarf Personal abbaut oder nur einen Teil der überzähligen Arbeitnehmer entlässt und die übrigen zum Beispiel als Personalreserve behält.
4. § 17 Absatz 3 Satz 1 KSchG stellt eine bloß verfahrensordnende Vorschrift dar. Ihre Verletzung verlangt im Hinblick auf Artikel 2 Absatz 3 Unterabsatz 2 der Massenentlassungsrichtlinie auch unter Berücksichtigung des Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatzes im nationalen Recht nicht nach der gleichen Rechtsfolge wie ein Verstoß gegen die Anzeige- oder Konsultationspflicht und zieht damit nicht die Nichtigkeit der Kündigung des von der Massenentlassung betroffenen einzelnen Arbeitnehmers nach sich.
Normenkette
KSchG §§ 1, 17 Abs. 3 S. 1; ZPO §§ 97, 520
Verfahrensgang
ArbG Cottbus (Entscheidung vom 21.09.2021; Aktenzeichen 6 Ca 1270/20) |
Tenor
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Cottbus vom 21. September 2021 - 6 Ca 1270/20 - wird auf seine Kosten zurückgewiesen.
II. Die Revision des Klägers wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten unter anderem über die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung.
Die Beklagte betreibt eine europaweit operierende Fluggesellschaft. Sie stellt keine langfristig gültigen Flugpläne auf, sondern orientiert sich kurzfristig und flexibel an der Nachfrage an bestimmten Flügen. Als einzige Stationen in Deutschland betrieb sie bis längstens zum 06. November 2020 die 2018 eröffnete Station Berlin-Tegel (TXL) und die Station Schönefeld (SXF), ab 01. November 2020 betreibt sie allein die Station am Flughafen Berlin-Brandenburg (BER) mit im November 2020 1.482 Beschäftigten des fliegenden Personals. Der am .... 1991 geborene Kläger ist nach Maßgabe des schriftlichen Arbeitsvertrages vom 15. Mai 2018 (Blatt 19 ff der Akte) seit dem 04. Juni 2018 als Second Officer (Pilot) beschäftigt, zunächst an der Station TXL und seit spätestens 06. November 2020 an der Station BER. Zuletzt bezog er eine Bruttomonatsvergütung in Höhe von durchschnittlich 6.254,68 Euro.
Für die Station BER ist nach Maßgabe des Tarifvertrages Personalvertretung Nr. 3 für das Cockpit- und Kabinenpersonal von E (Blatt 95 ff der Akte; im Folgenden: TVPV) für das fliegende Personal eine Personalvertretung (im Folgenden: PV) gewählt worden.
Seit dem 01. April 2020 wurde aufgrund mehrerer Betriebsvereinbarungen mehrfach und zuletzt bis zum 30. Juni 2021 verlängerte Kurzarbeit für die Beschäftigten des fliegenden Personals der Stationen TXL und SXF beziehungsweise BER durchgeführt.
Seit Juni 2020 plante die Beklagte europaweite organisatorische Maßnahmen, welche von einem Steuerungskomitee ("Steering Committee") bestätigt wurden ("Project Butterfly"; siehe dazu die als Anlage vangard 2 eingereichten Auszüge aus einem Planungsdokument, Blatt 152 ff der Akte). Danach war vorgesehen, die Anzahl von 34 an der Station BER stationierten Flugzeugen ("Lines of Flying") um 16 auf 18 zu verringern und das dort stationierte fliegende Personal mit 1.416,4 Vollzeitäquivalenten (im Folgenden: VZÄ) um 822 VZÄ zu verringern. Hierüber unterrichtete die Beklagte die PV mit Schreiben vom 30. Juni 2020 (Anlage vangard 5, Blatt 171 ff der Akte), in dem die Planung eines Personalabbaus von bis zu 738 Beschäftigten mitgeteilt wurde und das auch der Aufforderung zur Aufnahme von Interessenausgleichsverhandlungen und des Konsultationsverfahrens nach § 17 Absatz 2 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) dienen sollte.
Die Beklagte verhandelte, zeitweise unter Hinzuziehung eines Mediators, in der Folgezeit mit der PV über die Vermeidung von Entlassungen, einen Interessenausgleich und einen Sozialplan...